Axel Brüggemann
Die Zwei-Klassik-Gesellschaft
Wie wir unsere Musikkultur retten
Wie begegnet man einem Autor und seinem Buch, wenn er von sich selbst schreibt, er sei „einer der einflussreichsten Kulturjournalisten Deutschlands“? Nun gut, Zurückhaltung oder gar Bescheidenheit sind keine Begriffe, die man mit Axel Brüggemann in Verbindung bringen muss. „Wir“ müssen also „unsere“ Musikkultur retten. Und Brüggemann glaubt in seinem Buch auch zu wissen wie. „Es ist nicht schwer, vorherzusagen, dass der Musikmarkt der Zukunft weniger Orchester haben wird, weniger Musikschulen – und damit noch weniger feste Stellen.“ Diese Aussage wird durch keine konkrete Zahl oder Entwicklung der jüngsten Vergangenheit oder der Gegenwart belegt. Im Gegenteil: Bundesländer wie Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen haben die Finanzierung für Theater und Orchester im Herbst 2023 substanziell erhöht.
Ansonsten wird in dem Buch viel mit Zahlen gearbeitet, leider auch das nicht immer korrekt: Die Erhöhung der NV-Bühne-Mindestgage von 2400 Euro auf 3110 Euro ist offenbar an Axel Brüggemann vorbeigegangen. Angeblich kosten Orchester und Theater in Deutschland jährlich zehn Milliarden Euro. Eine Zahl, die schlicht falsch ist; denn die Gesamtausgaben der öffentlichen Hand für Kultur betrugen im Jahr 2020 laut Kulturfinanzbericht 14,5 Milliarden Euro. Aber Schwamm drüber.
In den einzelnen Kapiteln treibt Brüggemann in Yellow-Press-Manier thematisch so ziemlich jede Sau durchs Dorf, die ihm zuletzt über den Weg gelaufen ist, also von Machtmissbrauch und #MeToo in Theatern und Musikhochschulen über das Ende der Musikkritik, die Politisierung von Musik, Klimakrise und Nachhaltigkeit, staatliche Kulturförderung, Spitzengagen, Fachkräftemangel, Aufnahme- und Streamingmarkt bis hin zum „Wie kann die Klassik wieder Publikum erreichen?“ Belastbare Quellen sucht man weitestgehend vergebens. So zitiert Brüggemann beispielsweise die Münchner Musikhochschulpräsidentin Lydia Grün, ohne dass der Leser erfährt, wann, wo und in welchem Zusammenhang die Aussagen gemacht wurden.
Wichtige Probleme, die Brüggemann völlig ausspart, sind u. a. ein zeitgemäß präsentiertes Opern- und Konzertrepertoire, Hintergründe für mancherorts steigende Publikums- und Abozahlen, Finanzierungsstrukturen von Bund, Ländern und Kommunen, Erfolgsfaktoren für Opern-, Konzerthäuser und Orchester, Entscheiderstrukturen der öffentlichen Hand, Wirkungsziele öffentlicher Kulturförderung. Daher mögen von den 45 Schlussthesen des Buches allein die fünf zur dringend verbesserungsbedürftigen musikalischen Bildung verfangen. Der Rest bleibt leider plakativ und deklaratorisch. Schade.
Gerald Mertens