Bick, Martina (Hg.)

Die Winterreise

24 melancholische Geschichten zu Franz Schuberts Liederzyklus nach den Gedichten von Wilhelm Müller

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Gerstenberg, Hildesheim 2004
erschienen in: das Orchester 03/2005 , Seite 73

Für Goethe waren sie „Lazarettpoesie“, die er verabscheute, für Schubert der Stoff, aus dem man „einen Kranz schauerlicher Lieder“ flicht: Wilhelm Müllers Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten. Der Kranz, den Franz seinen Freunden avisierte, ist ein Ahasver der Musik, der seine Ruhe ebenso wenig findet wie der Wanderer, von dem er singt. Bei Liszt zu Liedern ohne Worte mutiert und bei Kagel dem Korsett einer Liederoper als Stütze und Stab eingezogen, hat er – mit unzähligen Zwischenstufen – so ziemlich alles durchgemacht, was einem Kranz nur widerfahren kann.
Indessen: Die „24 melancholischen Geschichten“, die es im vorliegenden Band hinter dem Titelwort eines tönenden Weltkulturerbes auf 368 Seiten zu entdecken gilt, belegen, dass hier noch viel Platz ist für Überraschungen. Den Leser erwartet eine Wanderung durch düstere Seelenlandschaften, die ihre Konturen nicht aus Schuberts Musik, wohl aber aus den Tiefenschichten der dichterischen Vorlage gewinnen, die nun offensichtlich auch das Regietheater für sich entdeckt hat. Dass die Dramatis Personae dabei neben allen nur denkbaren Graden der Verstörtheit auch viel kriminelle Energie freisetzen, lässt den Zyklus zu einer Tatort-Serie geraten, die ihre Botschaft in der Drastik des Bänkelsangs transportiert: Man stirbt beim Sturz vom Dach mit der rostigen Wetterfahne in der Hand oder beim freien Fall aus dem Schnürboden (Der stürmische Morgen), und das von Goethe beklagte klinische Ambiente der Texte wird lustvoll beschworen, wenn etwa eine zerfetzte Lunge den Frühlingstraum zum Alptraum macht. „Er“, nachdem Desirée ihm „ihr Knie in seine Weichteile gerammt hat“, erliegt einem Herzinfarkt – und sie tritt ungerührt aufs Gaspedal. Da geht Die Post ab. Albert wird am Galgen aufgeknüpft und Christina endet unter dem Eis auf der Wasserflut, als sie den Ring des Ungetreuen entsorgen will.
Unter dem Lindenbaum reichen sich Penner die Kanne, und auch sonst bechert man sich gediegen durch Müllers Poesie. Schubert bleibt es nicht erspart, im Wirtshaus (einem verkappten Puff) Ohrenzeuge von Marilyns „I wanna be loved by you“ zu werden, Bob Dylan firmiert als „Meister des Winterreise-Blues“ und speist die Nebensonnen mit wirren Assoziationen. Hauptkommissar und Mobiltelefonbesitzer Stahnke spricht jemandem Nur Mut! zu. So werden nicht nur die Freunde der Winterreise, sondern auch die des guten Krimis aufs Glatteis geführt.
Wäre da nicht der Abschiedsbrief von Franz im Leiermann, der sorgsam edierte Band wäre eine trostlose Angelegenheit: „Ich weiß nun, wo Elysium liegt. […] Ja, liebe Therese, ich bin durch diesen Gesang zur Ruhe gekommen.“ Ahasver ist erlöst. Hier klingt (durch viel Sentiment gebrochen) immerhin jenes Versprechen an, das der Winterreise noch in allen Wunden und Rissen eingeschrieben bleibt und das im Leiermann als einer „Ode an die Freude“ (Friedhelm Döhl) zur Verheißung wird. Schuberts Winterreise bedarf keiner selbst ernannten Hobbypsychologen, die – um Irrlichtjahre entfernt von Schuberts Musik – dem Leser aufnötigen, was er schon immer nicht wissen wollte.
Die Enttäuschung kann auch durch Barbara Sichtermanns kundiges und einfühlsames Nachwort und durch die ebenso inspirierten wie inspirierenden Bilder von Stefanie Roth nicht aufgewogen werden. Von Botho Strauß stammt das schöne Wort vom „verzeihenden Lächeln der Werke“. Möge die Winterreise es den Autoren nicht versagen!
Peter Becker