Korngold, Erich Wolfgang

Die tote Stadt

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: Dynamic 33625
erschienen in: das Orchester 07-08/2012 , Seite 79

Sie ist der Geniestreich eines 23-Jährigen, die dreiaktige Oper Die tote Stadt des Zemlinsky-Schülers Erich Wolfgang Korngold, die am 4. Dezember 1920 gleichzeitig in Köln und Hamburg uraufgeführt wurde und ihm Weltruhm bescherte. Die Hochspannungspartitur mit psychologischem Tiefgang, in der einige erlesene Nummern, Ohrwürmer sozusagen, als Ruhepunkte im Dauerrausch der Klänge und Farben fungieren, vermag auch heute noch zu fesseln, zu begeistern und zu neuen Lesarten zu animieren.
Bereits 2001 hat die DVD-Aufzeichnung aus der Opéra National du Rhin großen Eindruck gemacht: ein gespenstischer Tanz der Bilder, eine überbordende Theaterfantasie, in deren morbider Atmosphäre Brügge als „Stadt des Todes“ erschien. Großes Kino! Acht Jahre später setzt die Produktion des Teatro La Fenice andere Akzente – ihre Szenerie und ihre Protagonisten zeigen eine Stadt der Liebe und der Verführung: Venedig. Durch hohe Fensterbögen und wehende Vorhänge gleitet der Blick aus dem klar gegliederten, schlicht gestalteten Innenraum, dem „Tempel der Erinnerungen“, den Paul seiner toten Frau Marie errichtet hat, auf das gleißende Wellenspiel der Kanäle, auf die Gondel mit Marietta, der Doppelgängerin, und der übermütigen Komödiantentruppe, auf die Stadt mit ihren Türmen, Glocken und Prozessionen.
Die Inszenierung von Pier Luigi Pizzi lebt damit eher von Diesseitigkeit und elegischer Eleganz, sie macht aber dennoch keine Abstriche an der Intensität und Atmosphäre, die diesem Reigen beklemmender Visionen, dem Changieren zwischen Traum und Wirklichkeit, dem Gefangensein in Obsessionen und dem Einbruch von Lebenshoffnung innewohnen. Der Stoff des Fin-de-Siècle-Kultromans Bruges la morte von Georges Rodenbach (1892) lieferte aber Korngolds Oper nicht nur das Material zu einem Psychothriller, in dem die Grachten-Stadt zur Metapher für Seelenzustände wird, er taugte auch zu einem düsteren Zeitbild, das soziale Ver- und Zerstörungen ebenso ahnen lässt, wie es den Versuch wagt, der „Welt von Gestern“ (Stefan Zweig) zu entkommen. „Die eigentümliche Brügge-Stimmung, der schwermütige Grundton, die beiden Hauptgestalten mit ihren fesselnden seelischen Konflikten, der Kampf der erotischen Macht der lebenden Frau gegen die nachwirkende seelische Macht der Toten, die tiefere Grundidee des Kampfes zwischen Leben und Tod überhaupt, insbesondere der schöne Gedanke notwendiger Eindämmung der Trauer um teuere Tote durch die Rechte des Lebens, dabei überall eine Fülle musikalischer Gestaltungsmöglichkeiten“ – alles das, was Korngold derart anrührte, realisiert die Aufführung schlüssig und tiefgehend.
Ihre fantasiereichen, suggestiven Bühnenabläufe finden im sinfonischen Elan, im raffinierten Farbenspiel und in der subtilen Charakterisierungskunst der musikalischen Interpretation mit Eliahu Inbal am Pult die kongeniale Entsprechung. Und für die enorme Ausstrahlung sorgen auch Stefan Vinke und Solveig Kringelborn, die ihre extrem schwierigen Partien mit Bravour und Inbrunst meistern.
Eberhard Kneipel