Elstner, Elisabeth

Die soziale Kraft der Musik

Reise zu den Jugend- und Kinder-Orchestern von Venezuela

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Epubli, Berlin 2011
erschienen in: das Orchester 05/2012 , Seite 70

Den emotionalen Feuersturm, zu dem die klassische Musik fähig ist, haben die Spitzenorchester der venezolanischen Kinder- und Jugendorchesterbewegung „El Sistema“ dem hiesigen Publikum in den großen Konzerthäusern mittlerweile nahegebracht. Was im Expojahr 2000 noch ungläubig bestaunt wurde – Kinder, die sich mit der Geige aus der Gosse spielen, und das auf hohem künstlerischen Niveau –, hat heute Anhänger weltweit. Als Frontfiguren werden immer wieder Gustavo Dudamel, Edicson Ruiz, Christian Vazquez und andere bestaunt, die international Karriere gemacht haben. Doch was liegt diesem Phänomen, das große Dirigenten wie Abbado oder Rattle das „Wunder von Venezuela“ nennen, zugrunde? Wie funktioniert dieses gigantische Bildungssystem in einem weiterhin von sozialen Widersprüchen gezeichneten Land? Vor allem, wie kommt es, dass es seit fast 40 Jahren nicht aufhört, sondern weiter und weiter geht?
Es sind schon viele Pädagogen, auch aus Deutschland, nach Übersee gereist und vor Ort aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. Jetzt hat eine von ihnen in Form von einfachen Reisenotizen einen schmalen Band verfasst, der den Leser mitnimmt in die warmherzige Lernatmosphäre der Musikzentren von Caracas bis Barquisimeto: in den Unterricht mit Papier- und richtigen Instrumenten, in Chor- und Orchesterproben mit blinden und schwer geistig behinderten Kindern, in das Gespräch mit den Lehrern, von denen viele einmal selbst Schüler im Sistema waren.
Aus all den persönlichen Begegnungen, ob auf der Straße, auf dem Schulhof oder in der Warteschlange vorm Konzert, wird deutlich, dass es trotz des weltweiten Hypes um das Projekt und damit verbundener Widersprüche im Alltag vor Ort weiterhin um mehr geht als „nur“ um Musik. Integration ist für Gründervater José Antonio Abreu die Devise, nicht nur, was Menschen mit Handicap betrifft. Überhaupt so viele Kids wie möglich mit hinein zu nehmen ins Orchester, in die Gemeinschaft, in die Musik, in die Zukunftspläne, am besten alle, ist sein erklärtes Ziel. In der Ausgrenzung sieht Abreu die größte Gefahr weltweit für eine Gesellschaft. Überzeugt ist er auch davon, dass materieller Überfluss mindestens genauso erhebliche seelische Verwahrlosung verursachen kann wie Mangel und Not.
Damit sind wir in medias res: Lassen sich venezolanische Verhältnisse auf uns rückübertragen? Was bedeuten die so überraschend erfolgreichen pädagogischen Methoden für uns? Die Autorin lässt uns an ihren Überlegungen teilhaben: In Venezuela werden Kinder nicht bespaßt, sondern ernst genommen, ihnen wird früh zugetraut, was hierzulande erst nach vielen Jahren für angemessen gehalten wird: zum Beispiel große Literatur zu bewältigen, sofort im Orchester zu spielen, Konzerte zu geben, sich gegenseitig zu inspirieren und voneinander zu lernen. Das Lehrpersonal pflegt eine Kultur der Ermutigung, nicht der Kritik. Weil man den Kids Verantwortung gibt, begreifen sie sich als Teil einer Gemeinschaft und sorgen selbst für die Einhaltung der Regeln. Abbado sagt: Wer nach Venezuela kommt, findet „eine neue Welt“ vor, „eine andere Art und Weise, sich der Musik, Kultur überhaupt zu nähern“. Das Buch ermuntert, auf diese positive Kraft zu setzen.
Caroline Vongries