Nastasi, Mirjam (Hg.)
Die Soloflöte
Eine Sammlung repräsentativer Werke vom Barock bis zur Gegenwart. Band IV: Das 20. Jahrhundert (bis 1960)
Die ersten drei Bände, Musik für Flöte allein aus Barock, Klassik und Romantik, erschienen von 1991 bis 1993 in jährlicher Folge, nach langer Pause liegt jetzt ein Band mit Werken des 20. Jahrhunderts (bis 1960) vor. Absicht der Sammlungen ist es, Bekanntes neben Unbekanntem, Unterhaltendes neben Anspruchsvollem anzubieten. Das ist überzeugend gelungen, wobei Unterhaltendes durchaus auch anspruchsvoll sein kann und umgekehrt.
Kein anderes Blasinstrument hat im 20. Jahrhundert ein solches Solo-Repertoire wie die Flöte, der Herausgeberin Mirjam Nastasi wird die Auswahl nicht leicht gefallen sein. Die insgesamt 33 Stücke sind chronologisch angeordnet, wobei aber Entstehung und Druck in Wirklichkeit oft weit auseinander liegen. Syrinx, 1912 entstanden und 1913 uraufgeführt, ist erst 1927 im Druck erschienen, Hindemiths Acht Stücke von 1927 wurden erst 1958 gedruckt.
Die Komponisten sind, Fukushima ausgenommen, alle Mitteleuropäer, wobei Franzosen, Deutsche und Schweizer überwiegen. Das zu unterstellende Auswahl-Kriterium musikalisch wertvoll ist gut getroffen, kein Stück möchte man missen. Auch als Überblick über die Kompositionstechniken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Zusammenstellung sehr geeignet, die Entwicklung der Spieltechnik in diesem Zeitraum lässt sich an der gebotenen Auswahl eindrucksvoll verfolgen: ein breites Spektrum musikalischer und technischer Möglichkeiten und Ansprüche, über vielfältige vor- und rückwärtsgewandte Spielarten der moderneren Musik bis hin zu nach wie vor avantgardistischen Stücken wie die von Haubenstock-Ramati, Evangelisti, Maderna oder Berio.
Da aus Platzgründen bei zyklischen Werken nur Einzelsätze abgedruckt sind, wird man sich das eine oder andere Stück ganz kaufen wollen, z.B. die ungemein flötenmäßigen Trois Pièces von Ferroud, die vom Ausdruck her unmittelbar faszinierende Sonate von Escher, die Sonate von Willy Schneider mit ihrer aparten Zweistimmigkeit oder die Sonatine von dAlessandro. Vollständig abgedruckt als Hommage an den kürzlich verstorbenen Komponisten und zu Recht wegen ihrer Originalität sind Thema mit Variationen von Tilo Medek aus dem Jahr 1960.
Über weniger bekannte Komponisten wie Stern, Martin oder Funk erfährt man auch im Nachwort leider nichts. Aus Copyright-Gründen fehlen Ibert und Varèse. Die zum Abdruck genehmigten Stücke wurden neu gesetzt, was nun wiederum die Zahl der möglichen Lesarten vergrößert. Der Spieler ist gefordert, genau hinzugucken und Ausgaben zu vergleichen. Gerade Syrinx, wo kein Autograf erhalten ist, es aber fast unendlich viele Ausgaben gibt, überzeugt nicht (z.B. in T. 4, T. 19, T. 31, T. 33/34), auch im Danse de la Chèvre gibt es problematische Stellen; ansonsten ist der Notensatz sehr schön. Für Studierende und solche, die noch nicht alles haben, ist zudem der Preis des über 70 Seiten starken Hefts gegenüber Einzelkäufen unschlagbar günstig.
Ursula Pesek