Zender, Hans

Die Sinne denken

Texte zur Musik 1975-2003

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2004
erschienen in: das Orchester 03/2005 , Seite 70

Wenn irgendwo der Rezensenten-Wehruf berechtigt ist, man könne einem Buch nicht Genüge leisten, dann hier. Das vorliegende vereinigt Dokumentation, Rechenschaft und Stellungnahmen mit weit reichenden Entwürfen und reflektiert eine Musikerexistenz, die in Universalität, Horizont und Anspruch bestenfalls mit Pierre Boulez verglichen werden kann.
Hans Zender gehört als Komponist wie als Dirigent in die erste Reihe und er fragt, denkt und schreibt brillant – nie irgendeiner gelungenen Formulierung zuliebe, sondern im Dienst unerbittlicher Sachlichkeit. Mit dem, was sich bei Kunst, speziell bei Musik der rationalen Durchhellung verweigert, geht er unendlich behutsam um – u.a. in der Auseinandersetzung mit komponierenden oder dirigierenden Kollegen – und denkt zugleich im Ursinn radikal, d.h. von der Wurzel her. Das macht die Lektüre selbst von Beiträgen auf- und anregend, welche von Kompositionen handeln, die man nicht kennt das gibt der Autorisation durch einen bedeutenden Musiker, die einer solchen Sammlung allemal sicher ist, besondere Qualität und Dringlichkeit: Auf welchen Gedankenwegen Zender sich auch befinden mag, immer sind die Gedanken zugleich Erfahrungen, beglaubigt durch denjenigen, der 1990 im FAZ-Fragebogen „Genauigkeit“ seine Lieblingstugend nannte und dem Verdacht der Sekundärtugend begegnend hinzuzufügen vergaß, dass er genau wisse, wo er genau sein muss.
Hundert Texte unterschiedlichster Art und Größe hat der Herausgeber Jörn Peter Hiekel in acht Kapitel geordnet und Werkverzeichnis, Diskografie und ein Register beigefügt, welches inhaltliche Schwerpunkte ebenso anzeigt wie ein riesiges Einzugsgebiet: Antike, mittelalterliche, zeitgenössische Philosophen erscheinen dort ebenso wie bildende Künstler und Dichter.
Zur Authentizität der Zusammenstellung gehört, dass sie nichts auslässt – die nachträgliche Korrektur einer Selbstdarstellung ebenso wenig wie tief lotende Überlegungen zum Verhältnis von Dichtung und Musik (insbesondere anhand von Hölderlin und Joyce) und zur kompositorischen Situation heute, Rechenschaften über Verletzungen, Dankreden nach Preisverleihungen, in denen Zender unserer Beliebigkeitskultur bzw. Kulturpolitikern die Leviten liest oder theoretische Basistexte wie der 40 Seiten umfassende über „Gegenstrebige Harmonik“, eine „Gewaltkur […], welche bis zu den Fundamenten unseres Tonsystems“ vordringen will mit dem „Ziel […], eine Harmonik zu finden, welche auch die feinsten mikrotonalen Bewegungen durchhörbar und verständlich macht“ – viel mehr als etwa eine neue Systematik der Harmonie, sondern implizit eine Standortbestimmung heutiger Musik.
Das Moment kompromissloser Selbstverständigung – des Komponierenden wie des Dirigierenden – verbindet nahezu alle, thematisch so weit gestreuten Beiträge; nirgendwo sonst findet man die brennenden Probleme unseres Musiklebens in so enger Tuchfühlung mit anderen Lebens- und Wissensbereichen aufs Wort gebracht, nirgendwo sonst mit einem Ernst behandelt, der das Ästhetische moralisch macht. Weitab vom Gehabe eines Moralisten rettet Zender gegen die lauwarme Unverbindlichkeit des „Anything goes“ die Musik als „moralische Anstalt“. Wer ernstlich und genau wissen will, wie es um Musik heute bestellt ist, der greife zu diesem Buch.
Peter Gülke