Stöß, Thomas

Die Schuldamsel

für Holzbläserquartett (Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott) nach einer Erzählung von Lutz Seiler, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Hermann Löffler Musikverlag, Berlin 2013
erschienen in: das Orchester 07-08/2014 , Seite 75

Ein neues Holzbläserquartett, inspiriert von der gleichnamigen Kurzgeschichte Lutz Seilers, hat Thomas Stöß hier vorgelegt. Stöß stellte dem Quartett im Vorwort eine kurze Inhaltsangabe des Texts voran: „Meine Komposition versucht, Serkins [des Protagonisten] inneren Prozess von Verdrängung hin zum Erinnern, bis zur Befreiung von seiner Schuld musikalisch nachzuempfinden.“
Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott beginnen im langsamen Tempo, rufähnliche Einwürfe mit viel Raum dazwischen schaffen die dynamisch genau strukturierte Basis, harmonisch durchaus im konventionellen Rahmen, auf der die Flöte schließlich herrlich zwitschern darf. Sie beginnt mit ein paar Einwürfen, durch die Vorschläge an die Rufe einer Amsel erinnernd. Dann folgen bewegtere Figuren, begleitet von den Rufen der anderen drei Bläser. Das Grundtempo bleibt ruhig, die Atmosphäre entspannt.
Im anschließenden schnelleren Tempo verbreiten die Triolen der Klarinette sofort Unruhe, unterstützt vom marschähnlichen Ostinato des Fagotts. Auch Flöte und Oboe steigen zackig triolisch ein. Vielleicht passiert es hier, dass die Amsel ums Leben kommt? Jedenfalls gewinnt die Musik Takt für Takt an Dramatik und Lautstärke, verliert das Idyll, die Flöte schwingt sich in immer höhere Regionen auf. Schließlich weichen die
Staccati den Bindebögen, aber fröhlich wird es hier noch nicht.
Dann beginnen, wieder im ruhigen Tempo, jedoch variiert und moduliert, die Rufe und das Gezwitscher vom Anfang. Aber nun fehlt die Ruhe. Zweiunddreißigstelnoten kommen nun in fast allen Stimmen vor und sorgen für Bewegung. Eine Kadenz der Klarinette leitet über zum folgenden Allegretto, das der Flöte wieder Möglichkeiten zum anmutigen Gezwitscher bietet. Etwas wilder folgen nun Sechzehntelketten in allen Stimmen, ein sehr kurzer ruhiger Teil folgt vor dem letzten Grave. Die vier Bläser haben nun ein paar Takte voller Kantilenen vor sich, am Ende folgt das Tempo des Anfangs mit ein paar Zitaten aus dem Beginn. Die Flöte zwitschert wieder – kann Serkin nun mit seiner Schuld am Tod der Amsel umgehen? Gibt es eine Aussöhnung musikalischer Art zwischen dem toten Tier und dem jungen Protagonisten?
Diese recht bunte Musik ist durchaus technisch anspruchsvoll, aber nicht furchtbar vertrackt. Fortgeschrittene, sehr engagierte Schüler und Musikstudenten werden das Stück sicher meistern, doch auch dem Publikum mag die Lebendigkeit und Expressivität dieser Musik viel Freude bereiten. Die Schuldamsel ist Spielmusik im besten Wortsinne, man mag direkt zum Instrument greifen, wenn man nur die Noten in Händen hält. Sicher ist dieses Werk eine Bereicherung für das Repertoire des Holzbläserquartetts, aber es passt auch ins Programm des Bläserquintetts und beschert dann dem Horn einmal eine Pause.
Heike Eickhoff