Die Orchesterrepublik
Ein Streifzug durch die Geschichte der Berliner Philharmoniker, Hörbuch
Zum 125. Geburtstag der Berliner Philharmoniker werden dem Publikum zahlreiche Wege eröffnet, auf denen es das weltbekannte Orchester näher kennen lernen kann. Also, wie hätten Sies gern: hörend, Bilder betrachtend oder lesend? In den drei Veröffentlichungen sind die Wege im Prinzip gleichartig angeordnet, nämlich auf der Zeitachse. Und als Wegzeichen dienen dieselben Größen: die Dirigenten.
Die Berliner Philharmoniker sind ein typisches Kind des 19. Jahrhunderts. Das Orchester verstand sich als eine eigenverantwortliche Musikervereinigung, die ihre Kunst den Bürgern anbieten wollte. Von Anfang an zeigten sich bürgerliches Selbst- und Leistungsbewusstsein und die Gründung erwuchs sogar aus einem Akt des Widerstands.
Frühjahr 1882: Als Benjamin Bilse den Mitgliedern seiner Kapelle für eine Konzertreise nach Warschau neben einem ohnehin schon mageren Honorar nur eine Bahnfahrt vierter Klasse spendieren will, ist für 54 seiner Musiker der Moment gekommen, sich als Vormalige Bilsesche Kapelle selbstständig zu machen. Doch das junge Ensemble hat anfangs noch mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Erst als 1887 der Berliner Konzertagent Hermann Wolff die Organisation übernimmt, wird ein stabiles Fundament für die Zukunft geschaffen. Wolff arbeitete schon seit der Gründung mit dem Orchester zusammen: Er hatte eine umgebaute Rollschuhbahn zur ersten Philharmonie gemacht und angeregt, den Namen der Gruppe in Philharmonisches Orchester zu ändern. Nun besorgt er den Musikern auch den besten Dirigenten ihrer Zeit.
Das war Hans von Bülow. Das Orchester begann sich dank seiner gesteigerten Probenarbeit zu profilieren. Die Musiker wuchsen zusammen und Bülow verwandelte das Handwerk Dirigieren nicht zuletzt wegen seiner freien Behandlung der Partituren ins Kunstwerk Dirigieren. Auf die Ära Bülow folgten von 1895 bis 1945 die von Arthur Nikisch und Wilhelm Furtwängler. Von 1945 bis 1955 arbeitete das Orchester mit Leo Borchard, Sergiu Celibidache und noch einmal Furtwängler. Von 1955 bis 1989 erstreckte sich das autokratische Kunst- und Medien-Regime Herbert von Karajans. 13 Jahre Kunst-Demokratie erlebte das Orchester unter der Leitung von Abbado, der sich dem Orchester mit io sono Claudio vorstellte, das klassische und romantische Repertoire weiter pflegte, aber ein bisher nicht gekanntes Gewicht auf die klassische Moderne und die Avantgarde legte. Seit 2002 heißt der Chefdirigent Sir Simon (Rattle). Sein zeitgemäßer Adelstitel lautet: Kommunikator. Seine Orientierung: raus aus dem Elfenbeinturm. Als überzeugendes Tanz- und Musikexperiment im Rahmen des Education-Projekts der Berliner Philharmoniker wurde Rhythm is it! (Strawinskys Sacre du Printemps mit 200 Schulkindern aus vielen Nationen) mittlerweile als Film auch einem internationalen Publikum bekannt.
Wie bei der Lebensgeschichte eines Orchesters nicht anders zu erwarten, trifft man als Leser und Hörer in den drei Veröffentlichungen über weite Strecken auf dieselben Fakten und Anekdoten, wie sie in Lebenserinnerungen, Briefen, Rezensionen und Artikeln aus Zeitungen und amtlichen Dokumenten aufbewahrt sind. Herbert Haffner, Kulturjournalist und Verfasser einer gerühmten Furtwängler-Biografie (2003), hat aus dem reichen Material eine sehr reiche Orchesterbiografie verfertigt. Souverän geschrieben und dank feiner Ironie immer auf Distanz zum Pathos bedacht, bietet sie dem Leser eine im besten Wortsinn kritische Darstellung einer Musikinstitution als Teilstück einer Gesellschaft, die der Kunst und den Künstlern aufschlussreiche Rollen und Funktionen zuweist bzw. akzeptiert. Sehr empfehlenswert.
Das Hörbuch mit dem Titel Die Orchesterrepublik hat zwei Teile: 1. Von der Kapelle zum Orchester und 2. Von Ruhm zu Weltruhm. Es wird erzählt und zitiert sowie durch so genannte Orchesternotizen aus dem Munde von Philharmonikern erweitert, die das Innenleben der Orchesters beleuchten: Proben, Reisen, Instrumente, Aufführungen. Das Wort dominiert, Musikbeispiele gibt es nur wenige, aber dafür rare. Die Gestaltung mutet immer dann ein bisschen bieder an, wenn Sirenengeheul bei Kriegsausbruch ertönt oder Schreibmaschinengeklapper bei Briefzitaten mitläuft. Auch stören einige falsch ausgesprochene Komponistennamen. Dennoch der Hörer bekommt sehr viel Stoff und außerdem dieses gewisse Etwas durch Authentizität geboten. Ebenfalls sehr empfehlenswert.
Das gilt schließlich auch in hohem Maße für das opulente, schöne Bilder-Buch des Fotografen Dieter Blum, der sich seit 25 Jahren dem Themenquartett Musik, Tanz, Künstler und Modell widmet. Große suggestive Klangbilder von Personen, Räumen, Instrumenten, Stimmungen verbunden mit gut geschriebenen, informativen Texten und gehaltvollen Interviews ziehen den Betrachter in einen ganz eigenen Kosmos: den der Berliner Philharmoniker, der bedeutenden Orchesterrepublik.
Kirsten Lindenau