Hildebrandt, Dieter

Die Neunte

Schiller, Beethoven und die Geschichte eines musikalischen Welterfolgs

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Hanser, München 2005
erschienen in: das Orchester 09/2005 , Seite 78

Die Neunte. Die Neunte allerorten. Unser liebstes Feier- und Bekenntnis-Stück. Ein Stück, das immer wieder vor Rätsel und Herausforderungen stellt, die Grenzen der Gattung sprengte, aber sie nicht gültig neu definierte, dessen Schatten die Sinfonik bis zum Fin de Siècle erreichte, Komponisten hemmte. Mag Haydn über 100 und Mozart 41 Sinfonien geschrieben haben, seit Ludwig van ist die Zahl „neun“ magisch. Noch Adorno spottete über einen von ihm nicht sonderlich geschätzten Komponisten: „Er grübelt über der Achten, als wenn’s die Neunte wäre.“ Ein Stück, das für Interpreten heute noch zu den größten Wagnissen zählt, dessen „Melodie“ zum Gassenhauer eines gefühlsduseligen Freiheitsbegriffs geworden ist. Was liegt da näher, als pünktlich im Jahr des 250. Geburts-
tags von Friedrich Schiller ein Buch über die „Neunte“ vorzulegen?
Dieter Hildebrandt hat sich als Autor u.a. von Romanen zu Lessing und zur Klaviermusik im 19. und 20. Jahrhundert einen Namen gemacht. In seinem Buch über die Neunte spürt er nun der Geschichte dieses musikalischen Welterfolgs nach. Dabei geht er zumeist chronologisch vor, verzichtet aber auch im Laufe der Erzählung nicht auf Exkurse und Rückblenden. Zunächst schaut er dem Komponisten bei der Entstehung der Neunten über die Schulter, berichtet von der desaströsen Uraufführung. Rückblende: Schillers Sturm- und Drangjahre im Schwäbischen. Hildebrandt sinniert über jede einzelne Zeile in Schillers Ode, und er sammelt Indizien, wie entscheidend Schillers Text in Beethovens Leben und seinen ästhetisch-politischen Überzeugungen gewesen sein muss.
Im weiteren Verlauf nennt der Autor Marksteine der Aufführungsgeschichte in den einzelnen europäischen Nationen und auch in Übersee. Später dann stellt er die Neunte im Zusammenhang ihrer ideologischen Vereinnahmung (von rechts wie links) vor und wagt sich bis in die 70er Jahre zu Kagels Ludwig van vor, zur Phase also der – wie wir es heute modisch nennen – „Dekonstruktion“.
Hildebrandts Buch über Werk und Wirkung der Neunten ist nicht romanhaft und auch nicht streng wissenschaftlich, hat aber Züge von beiden literarischen Genres. Die jeweiligen Epochen der Beethoven-Verehrung lassen sich – was nicht verwerflich ist – episodenhaft lesen. Kronzeugen seiner historischen Darstellung sind überwiegend zeitgenössische Kritiken und Artikel namhafter Komponisten. Dieter Hildebrandt zitiert und kommentiert auch diese Berichte, aber er betrachtet sie nicht immer mit der Distanz, die einer ausschließlich historischen Darstellung geboten wäre. Rezeptionsgeschichte kann tiefer ansetzen als bei der Nennung von Kronzeugen, mögen sie auch Wagner, Berlioz oder Thomas Mann heißen. Rezeptionsgeschichte bedenkt das gesellschaftliche Umfeld, die Situation einer Musikkultur, die Aufführungsziffern. Die Kernfragen sind: „Weshalb macht gerade Beethovens Neunte eine solche Furore? Woher der Ruhm? Weshalb ist die Neunte als einziges Musikstück ,Weltkulturerbe‘?“ Hier nennt das Buch zwar spannende Ansätze, die sich aber kaum zu einer zentralen These oder Erkenntnis kondensieren lassen. So lesenswert einzelne Kapitel aus der Geschichte des musikalischen Welterfolgs sind, bleibt dennoch die gesamte Darstellung im Ungefähren.
Gernot Wojnarowicz