Dobberstein, Marcel
Die Natur der Musik
Systemische Musikwissenschaft Band 8, hg. von Jobst Fricke
Auch Kunstwissenschaften haben ihre Moden. 1948 glaubte etwa der zu seiner Zeit einflussreiche schweizerische Literaturwissenschaftler und ‑historiker Emil Staiger konstatieren zu können, dass wohl die Blüte einer nur historischen Forschung vorbei sei. Ihm schwebte eine anthropologische Fundierung der Literaturwissenschaft vor. Er wollte zeigen, wie das Wesen des Menschen im Bereich des dichterischen Schaffens erscheint. Staigers Programm haben in der Musikwissenschaft Forscher wie Friedrich Blume, Heinrich Besseler oder Walter Wiora auf ihre Art verfolgt, ohne sich direkt auf Staiger zu berufen. Bei Blume etwa verband sich jedoch seine Bestimmung des Wesens von Musik mit Attacken gegen die Neue Musik der 1950er Jahre, die eine heftige Gegenpolemik herausforderten. Darüber wurden die Versuche, die Auffassung von Musik anthropologisch zu fundieren, völlig ins ideologische Abseits gedrängt. Und unter dem mächtigen Einfluss Adornos setzte sich dann die genau gegenteilige, geschichtsphilosophisch fundierte These durch, nach der Musik durch und durch geschichtlich sei. Das musikalische Hören etwa habe sich nach dieser Auffassung nach der jeweils komponierten Musik zu richten, der das menschliche Hören, wie immer es auch bestimmt werden mag, durchaus auch grundsätzlich nicht gewachsen sein könne. Keinesfalls dürfe sich die zu komponierende autonome Musik von Fähigkeiten menschlichen Hörens gängeln lassen.
Mit dem rapide schwindenden Einfluss adornoschen Musikdenkens und dem kläglichen Scheitern der emphatisch Neuen Musik niemand will sie wirklich hören ist auch wieder die Neigung gewachsen, die Auffassung von Musik anthropologisch zu fundieren. Eine temperamentvoll vorgetragene anthropologische Fundierung der Musik fordert nun Marcel Dobberstein in seinem Buch Die Natur der Musik; und diese Forderung führt dann auch konsequent zu einer heftigen Kritik der Neuen Musik. Nach Dobberstein blieb doch tatsächlich bislang unerkannt, daß die Konzepte der Avantgarde des musikalischen Sinns entbehren, da ihnen der Rückbezug auf die leibseelische Basis musikalischen Hörens fehlt. Und weiter: Das heute vorherrschende Musikdenken, das Schönbergs, das von Theoretikern wie Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht, bedarf grundlegender Revision.
Nach Dobbersteins Kritik wird im gegenwärtig vorherrschenden Musikdenken der hörende, verstehende und lernende Mensch ausgeblendet. Für Dobberstein ist eine autonome Musik, die nur sich selbst genügt, ein Unding; es kann sie nach seiner Meinung nicht geben. Musik müsse immer als die Musik des Menschen verstanden werden, und die wachsende Einsicht in die Natur des Menschen befördere zugleich die Erkenntnis des Wesens der Musik.
Obwohl Dobberstein offensichtlich weit geöffnete Türen eintritt, wirkt sein Ansatz viel versprechend und man möchte sich in die Lektüre seiner Arbeit in der Hoffnung stürzen, fundierte Aufschlüsse über musikalische Grundprobleme zu erhalten, zu denen jeder, der sich ernsthaft mit Musik befasst, Stellung beziehen muss.
Doch ist Dobbersteins Text sprachlich-stilistisch ein fürchterliches Fiasko. Der Autor besitzt überhaupt kein Sprachgefühl; bestenfalls ahnt man, was er meinen könnte. Beispiele? Bitte: Anachronismus zu sein und als Ausdruck einer seichten Liebhaberschaft intra muros zu gelten, heißt die Folge jedweden Reflexionsverzichts. Und Resistenzschwäche ist die Konsequenz, weil im Fundament nicht oder pseudogefestigt wie andererseits mitteilungsunfähig für den Import und Export von Wissen in den Raum, dem man angehören muß, dem der Wissenschaften. Jene Haltung selbst ist es, die der Abgrabung der Fachsubstanz das Tor öffnet. (S. 55 f.) So gehts 371 Seiten lang.
Giselher Schubert