Jankélévitch, Vladimir
Die Musik und das Unaussprechliche
Was ist Musik? Mit dieser Frage aus Gabriel Faurés Lettres intimes beginnt der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch seine Schrift La Musique et lIneffable, die erstmalig 1961 in Paris herausgekommen ist. In der Übersetzung von Ulrich Kunzmann ist sie jetzt neu bei Suhrkamp erschienen, eine Kostprobe daraus konnte man bereits in Satie und der Morgen lesen.
Als französischer Jude, dessen Familie aus Odessa emigriert war, hatte Jankélévitch den Zweiten Weltkrieg als Offizier und Mitglied der Résistance erlebt. Sein Hass auf alles Deutsche blieb bis zu seinem Tode fast ungebrochen, obwohl er als junger Mensch die Sprache gelernt und sich mit deutscher Musik, Philosophie und Dichtung vertraut gemacht hatte. Seine von Willi Reich übersetzte Ravel-Monografie (1958), in der vieles schon anklingt, was in Die Musik und das Unaussprechliche behandelt wird, ist antiquarisch noch erhältlich.
Was also ist Musik, was hat es mit der Eigenschaft des Unaussprechlichen auf sich, ein Ausdruck übrigens, den auch E. T. A. Hoffmann in seiner Rezension der 5. Symphonie von Beethoven verwendet hat. Jankélévitch geht es nicht um mögliche Sprachähnlichkeit von Musik, sondern um grundsätzliche Verschiedenheit. Sprache kann absoluten Sinn vermitteln, Musik dagegen ist vieldeutig, bedeutet alles oder nichts, ist ernst und leichtfertig, tiefgründig und oberflächlich zugleich, dies eine Kapitelüberschrift. Musik vermag im Menschen, der sich ihrer Wirkung hingibt, unendlich viel an unterschiedlichen Emotionen, Assoziationen, Gedanken auszulösen, das lässt sich nicht mehr in Worte fassen. Die Musik offenbart den Sinn des Sinns, indem sie ihn verbirgt, sie macht ihn flüchtig, indem sie ihn offenbart, so deutet es Jankélévitch, ganz ähnlich wie Adorno in seinem Fragment über Sprache: Musik trifft es unmittelbar, aber im gleichen Augenblick verdunkelt es sich.
Für Jankélévitch als ausgezeichneten Pianisten ist es wichtig, dass Musik gehört und gespielt wird, damit sie durch sich selbst wirkt. Seine musikalische Welt ist die des französischen Impressionismus, der auf neue Art mit Klang und Form umging. Zahlreiche Musikbeispiele verdeutlichen seine Ausführungen, sie stammen u. a von Fauré, Debussy, Ravel, Dukas, Liszt, Mussorgski, Rimski-Korsakow, Strawinsky und Bartók, um nur einige Namen zu nennen. Sich als Leser damit vertraut zu machen, auch wenn es sich um weniger geläufige Werke handelt, ist zum Verständnis wohl unerlässlich. Seinem Gedankenfluss zu folgen, der oft zugespitzt formuliert den Widerspruch schon einbezieht, ist faszinierend, aber anstrengend.
Jankélévitch kann wirklich begeistert und zugleich argumentierend Musik vermitteln, wie Andreas Vejvar im Nachwort schreibt. So ist zu hoffen, dass die mit großer Sorgfalt edierte Ausgabe, die auch ein Gesamtverzeichnis seiner philosophischen und musikalischen Veröffentlichungen enthält, Vladimir Jankélévitch einem größeren Leserkreis bekannt machen wird.
Ursula Peek


