Lehár, Franz

Die lustige Witwe

Historisch-kritische Neuausgabe, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Doblinger, Wien 2005
erschienen in: das Orchester 05/2006 , Seite 78

Der 2. Januar 1905 war für das Haus Doblinger ein Glückstag, wie sich noch herausstellen sollte; der Tag, an dem Bernhard Herzmansky die Verträge über Franz Lehárs neueste Operette unterzeichnete. Die lustige Witwe wird dann am 30. Dezember desselben Jahres im Theater an der Wien uraufgeführt: Beginn eines (zu Anfang etwas holprigen) Triumphzugs durch die ganze Welt. Verständlicherweise hielt der Verlag an dem Werk auch dann fest, als Lehár alle bis dahin erschienenen Werke für seinen Glocken-Verlag einzusammeln bestrebt war.
Doblinger hat das 100-Jahr-Jubiläum auf noble Art begangen: durch die Herausgabe einer Partitur. In der Praxis war man – zumal im Dreispartentheater – immer mit einem (halbwegs verbindlichen) Klavierauszug ausgekommen. Damit war die Verpflichtung auf eine feste Besetzung erleichtert, ohne das künstlerische Gewissen allzusehr zu belasten. Die Nähe aller Beteiligten zum Genre Operette und die damit verbundene Routine (eher Vertrautheit als Schlamperei) zahlte sich allemal aus. Diese enge Verbindung ist heute verloren gegangen; statt auf die jeweilige Originalgestalt zurückzugreifen, befrachtet man die Operette mit Zeitkritik, soziologischen und politischen Exkursen.
Norbert Rubey, der sich schon um das Johann-Strauß-Gesamtwerk verdient gemacht hat, besorgte die Herausgabe, unter Heranziehung von Manuskripten (drei Partiturseiten in der klaren Handschrift des Komponisten sind im Faksimile wiedergegeben) und gedruckten Klavierauszügen. Zugrunde gelegt wurde die Fassung von 1907 (anlässlich der 300. Aufführung im Theater an der Wien) – und zwar aus einem triftigen Grund: Jetzt erst erscheint das alles überstrahlende Duett Hanna/Danilo als Nr. 15 textiert („Lippen schweigen, ’s flüstern Geigen“). Bis dahin war die Melodie dazu in zwei instrumentalen Teilen versteckt. Die einstige Nr. 15, Valencienne und Camille über den „Zauber der Häuslichkeit“, wurde Nr. 5, die in der ursprünglichen Form nur eine Reminiszenz Camilles war; sie wurde eliminiert, ist aber der Partitur als Anhang beigegeben.
Selbstverständlich sind alle späteren Striche sichtbar gemacht, blieb der Notentext frei von allen Einschüben und Bearbeitungen. Der Textteil (deutsch/englisch) enthält neben dem Revisionsbericht Fotografien der Uraufführung sowie ein Vorwort mit Hinweisen auf die politischen Anspielungen (mit Blick auf Österreich-Ungarn und Montenegro, das parodierte „Pontevedro“); die Literaturangaben sind etwas dürftig ausgefallen.
Das Lesen der Partitur bestätigt nachdrücklich die Vorzüge von Lehárs Orchestergestaltung: viel selbstständiges Holz, Harfe, vielfach geteilte Geigen. Seine Affinität zur Balkan-Folklore kulminiert in der Verwendung eines Tanburizza-Ensembles aus Zupf- und Schlaginstrumenten zu Beginn des 2. Akts. Als der Komponist bei der englischen Erstaufführung der Merry Widow nur 28 Musiker im Orchestergraben entdeckte, war er entsetzt; zu unrecht, wie sich herausstellte. Von hier aus bahnte sich, wenn auch mit umbenanntem Personal und veränderten Schauplätzen, der Welterfolg dieser Operette an; einem Werk „auf der Grenze: eine der letzten Operetten, die noch etwas mit Kunst zu tun haben“ (Theodor W. Adorno).
Karl Robert Brachtel