Denise Wendel-Poray, Gert Korentschnig und Christian Kircher (Hg.)
Die letzten Tage der Oper
Ist die Gattung Oper ein dem Untergang geweihtes Fossil? Hat sie noch ausreichend kreative Kraft für die nächsten Jahrzehnte? Danach fragt das zu Beginn des Jahres im italienischen Skira-Verlag erschienene Buch Die letzten Tage der Oper. Der provokante Titel spielt an auf Karl Kraus‘ Drama Die letzten Tage der Menschheit, ohne dass jedoch ein Zusammenhang mit dem Buchinhalt deutlich würde.
Ansinnen der drei Herausgeber:innen um Denise Wendel-Poray ist eine Bestandsaufnahme des Genres Musiktheater. Der Sammelband enthält rund hundert Beiträge, die aus verschiedensten Blickwinkeln die Relevanz der Oper in heutigen Zeiten zum Thema haben. Die Autor:innen sind in allen denkbaren Bereichen und Gewerken rund um das Theater tätig: Dramaturgen und Sänger; Bühnenbildner, Librettisten oder Kritiker.
Auch die Art der Berichte ist äußerst heterogen: Biografisches, Anekdoten und Analysen, Problemfeststellung und Lösungssuche – bis hin zu einer Art Comic des gelegentlichen Bühnenbildners Jonathan Meese. Aufgewertet wird der Band durch Illustrationen der auch textlich beteiligten Künstler, zum Beispiel Georg Baselitz, der großes musikalisches Wissen offenbart.
Zur Fraktion der „Optimisten“, die von der Erneuerungsfähigkeit der Gattung Oper überzeugt sind, gehört Cecilia Bartoli, die als Argument die Originalklang-Bewegung der vergangenen Jahrzehnte anführt.
Im Lager der „Pessimisten“ werden immer wieder dieselben Probleme vorgebracht, die auch Ioan Holender, langjähriger Direktor der Wiener Staatsoper, auf den Punkt bringt: die Abwesenheit von zeitgenössischen Werken, das Primat der Inszenierung gegenüber der Musik, Oberflächlichkeit und Kommerzialisierung.
Vom zweifelhaften Trend, die Opernregie Fachfremden zu überlassen, zeugt auch die Auswahl der Autor:innen für diesen Band. Ein Grafiker berichtet, wie er eingeladen wird, Bergs Lulu zu inszenieren, wo ihm jedoch die „erkennbaren Melodien“ fehlen; er sagt am Ende zu. Einer Bildenden Künstlerin, die zugibt, in ihrem Leben nur wenige Opern gesehen zu haben, bietet man die Regie von Aida an.
Vielen Beiträgen ist anzumerken, dass die Buch-Veröffentlichung durch die Pandemie verzögert wurde. Zahlreiche Kunstschaffende reflektieren die Bewältigung der Krise und ihre berufliche Orientierung. Das ist aber kein Nachteil, stellten sich doch in den Lockdown-Monaten die Fragen nach Sinn und Relevanz von Kultur besonders eindringlich.
Sind nun die „letzten Tage“ der Gattung Oper angebrochen? Eine eindeutige Antwort liefert der Sammelband nicht. Die Opernwelt erweist sich in dieser Frage als gespalten.
Antje Rößler