Paede, Henrike

Die Knilche von der letzten Bank

Arbeitsplatz Chor

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 02/2004 , Seite 19
Sänger sein in einem Rundfunkchor – welch ein Traumjob! Den berühmtesten Dirigenten der Welt aus wenigen Metern Entfernung direkt ins Gesicht zu schauen, mit ihnen zusammen die herrlichste Musik neu zu erschaffen… Bei dieser Vorstellung schlägt das Herz eines jeden Musikliebhabers höher. Doch Vorsicht, diese wunderbare Medaille hat auch ihre weniger glänzende Kehrseite. Mit einem Blick direkt in die Mitte der Arbeit professioneller Chöre sei hier ein wesentlicher Punkt herausgegriffen und besprochen, der Chorsängern bei der Ausübung ihres Berufs fast immer Probleme bereitet.

Es hat sich tatsächlich noch nicht überall herumgesprochen, dass Singen, professionell betrieben, mindestens dieselben Anforderungen an den Arbeitsplatz und die Erhaltung der Gesundheit stellt wie jeder andere Beruf. Da der Sänger sein Instrument weder frisch besaiten noch erneuern kann, der Körper vielmehr sogar das Instrument selbst darstellt, muss seiner Pflege, Schonung und Regeneration besonderes Augenmerk geschenkt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die für den Arbeitsplatz Verantwortlichen sich zum Teil in seliger Unwissenheit über das beim Singen ablaufende gesamtkörperliche Zusammenspiel befinden. Noch vor nicht allzu langer Zeit hörte ich aus dem Munde eines Orchestermanagers folgenden Satz: „Man kann ja wohl erwarten, dass der Chor während der Dauer eines Brahms-Requiems stehen bleibt!“
In den letzten Jahrzehnten hat sich detailliertes Wissen um den ergonomischen Arbeitsplatz verbreitet, und die Arbeitgeber sind durch gesetzliche Vorgaben zum sorgfältigen Umgang mit der Gesundheit ihrer Mitarbeiter verpflichtet worden. Seit den 60er Jahren hat sich die Forschung auch mit den speziellen Problemen der Musikergesundheit befasst, nur leider sind anscheinend die Chöre dabei vergessen worden. Auf jedem Konzertpodium wird man etwa spezielle Stehhilfen für die Bassisten sehen, jeder Instrumentalist hat einen Stuhl, ein Pult und genügend Bewegungsfreiheit. Für den Chor sieht man nur drei oder vier Reihen Holzbänke ohne Rückenlehnen, weiter nichts. Selbst Polsterauflagen sind keine Selbstverständlichkeit.

Man singet mit Freuden (BWV 149)
Im Gegensatz zu den Instrumentalisten haben wir Chorsänger es von der ersten Probe bis zum Konzert mit völlig verschiedenen Situationen zu tun. Betrachten wir zunächst die Situation im Chorprobenraum. Dort gibt es, zumindest bei uns in München, ein leicht im Bogen verlaufendes, ansteigendes Podest mit beweglichen Stühlen, das achtzig Sängerinnen und Sängern Platz bietet, ohne dass der Einzelne allzu sehr an Bewegungsfreiheit einbüßt. Die Tiefe der einzelnen Stufen beträgt 140 cm, sodass ganz bequem ein Stuhl und ein Pult für jeden unterzubringen sind. Leider sind unsere Stühle nicht nach Höhe, Neigung und Sitztiefe verstellbar (wir sind aber guten Mutes, dass diese Verbesserung nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt). Manche der Kollegen haben sich daher ihren „persönlichen“ Stuhl mit Auflagen, Sitzkeil oder zusätzlicher Rückenstütze präpariert, und unser netter und verständnisvoller Inspizient kümmert sich sogar um die richtige Zuordnung beim Aufbau. Somit gibt es im Chorsaal „nur“ ein Defizit bei der Sitzergonomie.

Wir müssen durch viel Trübsal (BWV 146)
Anders die Situation im Aufnahmestudio oder im Konzertsaal. Nun sind wir in geraden Reihen nebeneinander angeordnet. Wenn wir das Glück haben, Stühle (anstelle von Bänken) zum Sitzen zu bekommen, müssen diese nach der Musterversammlungsstättenverordnung (MVStättV) aus Sicherheitsgründen seitlich miteinander verbunden werden; Stuhl wird an Stuhl gehakt. Das bedeutet, das jedem Sänger nur eine Breite von ca. 57 cm zur Verfügung steht. Allein schon aus dieser Enge ergibt sich eine Reihe von Belastungen. Als Sänger kann man seine Körperspannung am besten aufbauen, wenn man die Ellbogen je ca. 10 cm weit vom Körper abspreizt und die Dehnung von Rücken und Brustkorb betont. Darüber hinaus muss der Abstand zu allen Nachbarn eine leichte Pendelbewegung des ganzen Körpers zulassen, weil völlig unbewegliches Stillstehen eine Garantie für Schmerzen ist. Bei meiner Körpergröße von 180 cm und einer sehr schlanken Figur sind 70 cm Breite das absolute Muss. An den Körper geklemmte Arme erzeugen schmerzende Verspannungen im Nacken- und Schulterbereich und verursachen Probleme mit der Halswirbelsäule bis hin zu Kopfschmerzen und tauben Armen.

“Tritt ruhig näher, liebe Kollegin! Quetsch dich einfach durch. Aber Vorsicht, wenn du dich neben mich auf diese Stufe setzen willst, bitte nur ganz auf die Kante, denn der Basskollege hinter uns kann mit den Füßen nicht weiter zurück. Besser, du versuchst es vor mir, in der ersten Reihe, dort gibt es eine Bank. Wenn du von links über drei Altistinnen kletterst, kommst du mühelos zu einem Luxusplatz genau in ihrer Mitte, bei dem die sich durchbiegende Sitzfläche gerade wieder die Kurve nach oben nimmt. Lehn’ dich ruhig an meinen Knien an, denn sie stecken zwangsläufig in deinem Rücken. Meine Noten in deinen Haaren werden dich nachher, wenn wir aufstehen und singen, kaum stören. Danke, aber weich lieber nicht weiter nach vorne aus, sonst stürzt du vom Podest!”

Je länger die Phase des Stehens, desto schmerzhafter wird uns Sängern auch bewusst, dass die Noten in unseren Händen immer schwerer werden. Pulte könnten hier Abhilfe schaffen. Doch die Podeste unserer Konzertsäle sind leider nur auf den Platzbedarf von Bänken ausgelegt, sodass – wenn die Sicherheitsbeauftragten zwei Augen zudrücken – dort zwar Stühle, aber nicht zusätzlich noch Notenpulte aufgestellt werden können. Alternativ bietet sich an, nur Pulte zu benützen und auf die Sitzgelegenheit ganz zu verzichten, was unter den jetzigen baulichen Vorgaben unumgänglich wird, wenn das Notenmaterial sehr groß ist und wenn Stimmgabeln benützt werden müssen.
Aus unseren eigenen Reihen kommt immer wieder das Argument, Pulte störten das geschlossene Bild des Chors. Ich persönlich lehne diesen Gesichtspunkt ab. Welcher Formel-1-Fahrer verzichtet schon aus optischen Gründen auf seinen Helm? Schon besser gefällt mir folgender Ansatz: „Wir können noch besser sein als bisher schon, wenn wir ohne Schmerzen singen.“ Man könnte ansprechendere Pulte bauen lassen (die z.B. auch Platz und Aufbauzeit sparend direkt in Bohrungen am Boden gesteckt werden könnten), und außerdem ist bei annähernd waagrecht gestellter Platte das Pult aus Publikumssicht nur ein schmaler Streifen. Schwerer wiegt jedoch der Vorteil des größeren Wohlbefindens durch freie und „leichte“ Arme, der sich unmittelbar in künstlerische Leistung umsetzen lässt. Die Absicht, einer besseren Optik gewisse Opfer zu bringen, mag ehrenhaft sein, Schäden an Muskulatur und Skelett jedoch beeinträchtigen langfristig nicht nur das Individuum, sondern auch die Qualität des Klangkörpers.

Mein Gott, wie lang’ (BWV 155)
Die Konzertsituation erfordert nicht nur unbewegliches Stillstehen, sondern auch Stillsitzen. Bei Stücken wie den Chorsymphonien von Mahler oder Beethovens Neunter muss der Chor eine lange Zeit „absitzen“. An den Stühlen entscheidet sich daher, ob wir ohne Schmerzen davonkommen. Auf Bänken ohne Rückenlehne jedoch wird die Wartezeit zur reinen Qual. Um einen einwandfreien Anblick zu bieten, sind eine ruhige, nach vorne ausgerichtete, aufrechte Haltung mit ziemlich geschlossenen Beinen vonnöten. Für den Rücken bringen jedoch häufige Haltungswechsel – zum Beispiel in den „Kutschersitz“, also vornüber gebeugt mit breiten Beinen und aufgestützten Ellbogen – sowie häufiges Dehnen Entlastung. Natürlich kann ein derart „lümmeliger“ Anblick dem Publikum nicht angeboten werden. Und in den Chorversammlungen tadeln wir uns gegenseitig mit schöner Regelmäßigkeit für solches Verhalten. Bei genauer Betrachtung aber hat jeder, der sich schlecht benommen hat, nur das getan, was seinen Körper und damit sein Instrument schont.

„Sie singen im Runkfunkchor? Dann machen wir ja dasselbe! Ich singe im Kirchenchor Großaitingen.
Und was machen Sie beruflich?“

Ich möchte nochmals auf die Dichte des Choraufbaus zurückkommen. Neben dem schon angesprochenen Platzbedarf für eine sängergerechte Haltung spricht außerdem die Belastung durch das Kleinklima gegen eine zu enge Aufstellung. Bei einer Breite von nur 58 cm pro Mann und Nase steigen im Inneren des Chors Temperatur und Luftfeuchtigkeit deutlich an. Nun ist aber gerade beim Singen, das noch immer altmodisch-pneumatisch funktioniert, die Luftqualität ein entscheidender Leistungsfaktor. Abgesehen davon stellen sich bei einer derartigen Personendichte durch den Sauerstoffmangel auch bei nicht singenden Leuten Kreislaufprobleme bis hin zur Übelkeit ein. Wenn aber ein williger Techniker den Luftaustausch erhöht, bekommen die Sänger, die am Rand stehen, Probleme mit Zugluft. Fazit: „Dem Chor kann man es nicht recht machen!“ Dabei liegt das Problem nicht in der komplizierten Psyche meiner Kollegen, sondern im Aufbau.
Ein breiterer Aufbau für den Chor hat aber noch weitere Vorteile: Je enger die Sänger stehen, desto weniger hören sie den Gesamtklang des Chors, sondern in erster Linie den Hintermann und die beiden Nachbarn. So ist zum Beispiel schlecht wahrnehmbar, wenn in der „Hitze des Gefechts“ die Lautstärke ansteigt. Desgleichen nimmt einem die akustische Enge die Möglichkeit, die eigene Stimme zu kontrollieren. Bei größeren Abständen zu den Kollegen, etwa wie im Chorprobensaal, kann man sowohl sich selbst als auch den Gesamtklang besser wahrnehmen. Daher ist der breitere Aufbau auch aus stimmhygienischen und gesamtkünstlerischen Gründen zu bevorzugen.

Freue dich, erlöste Schar (BWV 30)
Wie man gesehen hat, bleiben für den Chor auf unseren Konzertbühnen einige Wünsche offen. Natürlich sind die jetzt vorhandenen baulichen Vorgaben schon aus Kostengründen nicht sofort zu ändern. Dennoch bieten sich Möglichkeiten, um unsere Arbeitsbedingungen auf ein vertretbares Niveau zu heben. Am Wichtigsten wäre das Umdrehen der Planung, sodass der für den Chor benötigte Platz nicht als letzter, sondern als erster Schritt festgelegt wird. Bei 70 cm Breite pro Sänger und großer Besetzungsstärke ergibt dies möglicherweise eine Reihe mehr für den Chor als bisher. Danach erst sollte der Orchesteraufbau geplant werden. Unter Umständen werden Blech oder Schlagwerk gebeten „umzuziehen“. Vielleicht rutscht auch das ganze Orchester etwas weiter nach vorne. Bei den Maßen der Philharmonie im Münchner Gasteig wären dies ca. 80 cm, die vorne, zusätzlich zum „Laufsteg“ der Solisten und des Dirigenten, allemal übrig sind.
Als weitere Möglichkeit bietet sich an, mobile Podeste für den Chor mit einer Stufentiefe von 120 cm auf der ebenen hinteren Bühne jeweils aufzubauen. So könnte auch der Chor den „normalen“ Musikerarbeitsplatz mit Stuhl und Pult bekommen. Höchsterwünschtes Freudenfest (BWV 194)!