Haydn, Franz Joseph

Die Jahreszeiten

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Naxos 8.557600-01
erschienen in: das Orchester 03/2007 , Seite 91

Haydns Oratorium Die Jahreszeiten galt von jeher als der nicht recht gelungene Versuch, an den Erfolg der Schöpfung anzuknüpfen. Nicht erst die Nachwelt befremdete die Naivität der Naturidylle. Haydn selbst drückte seine Zweifel schon während der Arbeit mit den Worten aus: „Es würde besser seyn, wenn der ganze Quark nicht wäre.“ Immerhin notierte Haydns erster Biograf Griesinger nach der Uraufführung: „Alles Wizeln und Bekritteln des Textes verstummte vor Haydns Tonmagie.“
Bis in die jüngere Zeit wurde oft die mangelhafte Überlieferung des Notentextes übersehen. Nicht nur zahlreiche Details der Phrasierung sind fragwürdig. Mehrere Bläserstimmen, vor allem Teile der Kontrafagott-Stimme und die Schlaginstrumente im „Herbst“ sind aus Sekundärquellen übernommen. Die Einleitung des „Sommers“ verwendete vermutlich keine Geigen, dafür aber geteilte Bratschen und Celli. Da das Autograf verschollen ist, müssen viele Fragen offen bleiben.
Der Dirigent der vorliegenden Neuaufnahme und sein Ensemble haben sich die Aufgabe gestellt, die Aufführungspraxis des 18. Jahrhunderts auf modernen Instrumenten zu realisieren. Mit vibratoarmer, schlanker Tongebung kommen sie dem Klangspektrum von „Originalinstrumenten“ sehr nahe. Das hervorstechende Merkmal dieser Interpretation ist jedoch die kompromisslos genaue Phrasierung und Artikulation. Keine der verfügbaren Vergleichseinspielungen, auch nicht die der ausgewiesenen Spezialisten für historische Aufführungspraxis, treibt es derart auf die Spitze.
Die Gefahr, musikalische Phrasen in allzu kleine Motiveinheiten zu zerstückeln, wird gebannt durch zügige Tempi und vor allem mit einer dynamischen Feinzeichnung, die die Spannungsbögen quasi neu entstehen lässt. In diesem Kontext wirken die vielen naturalistischen Lautmalereien nicht mehr wie aufgesetzte Kuriositäten, sondern als integraler Bestandteil der musikalischen Struktur. Der GewandhausKammerchor ist dem Ensemble ein idealer Partner, der auch große Schwierigkeiten scheinbar mühelos bewältigt. Den Chorsatz „Juhhe, Juhhe! Der Wein ist da“ hat man so emphatisch wahrscheinlich noch nicht gehört.
Unter den Gesangssolisten ragt Sibylla Rubens hervor, die den rustikalen Charme ihrer Partie mit höchster Stimmkultur zu verbinden weiß. Die Stärken des Tenors Andreas Karasiak zeigen sich besonders in dem rhetorischen Duktus seiner Rezitative. Der Bass Stephan MacLeod vollzieht seinen Part sauber und geradlinig, allerdings unter weitgehendem Verzicht auf gestalterische Impulse. Die Instrumentalsolisten, allen voran die exponierte Oboe, leisten Vorzügliches. Die Interpreten hatten den Mut, einen extremen Standpunkt zu realisieren. Das Wagnis hat sich gelohnt. Wir erleben hier Haydn als Zeitgenossen des jungen Beethoven.
Jürgen Hinz