Kesting, Jürgen

Die großen Sänger

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Hoffmann & Campe, Hamburg 2008
erschienen in: das Orchester 03/2009 , Seite 58

Jürgen Kestings 1986 erstmals dreibändig erschienenes Werk über die Geschichte der Sänger und der Gesangskunst ist konkurrenzlos im deutschen Sprachraum. Lange wartete man auf sein Wiedererscheinen. Jetzt hat es Kesting – sogar um ein Drittel erweitert – noch einmal herausgebracht. Die 36 Kapitel der vier Bände werden mit Essays eingeleitet, in denen es um Begriff und Geschichte des Belcanto und um die verschiedenen französischen, italienischen und deutschen Gesangsschulen geht, aber auch um Praxis und Geschäft des Opernlebens, die Vermarktung von Stimmen, deren Voraussetzungen und den Wandel des Geschmacks.
Kesting dokumentiert verloren gegangene gesangstechnische, aber auch Stil-Traditionen wie deren Wiederentdeckung in unserer Zeit, gerade was die Kunst des Belcanto angeht. Man denke nur an Sänger wie Marilyn Horne, „die größte Sängerin der Welt“, oder an Juan Diego Florez, den Kesting einen „Belcanto-Prinzen“ nennt. Kesting bekennt sich zu seinen Vorlieben und Abneigungen. Christa Ludwig ist für ihn „die Herrlichste von allen“, Anna Netrebko tut er als „Cindy Crawford der Oper“ ab und Edita Gruberova wird „trotz aller Einwände … zu den außerordentlichen vokalen Phänomenen der letzten vier Jahrzehnte“ gerechnet. Ganz und gar gnadenlos schreibt er über die Aufnahmen Gabriele Schnauts. Sie „zu tolerieren“, heiße „sich an der Qual eines… Kampfes zu weiden“.
Sängerische Kunst setzt für Kesting die Beherrschung der Technik und der Grammatik der jeweiligen Musik voraus. Seine Hauptthese: „Bei wahrhaft großen Sängern vollzieht sich die Darstellung primär im Gesang.“ Alle großen Sänger und Sängerinnen zeichnen sich für ihn dadurch aus, dass der Klang das Gesicht dieser Stimmen ausmacht. Deshalb stützt sich Kesting in seiner Sängerbeurteilung denn auch lieber auf Klangkonserven (Schallplatten) als auf reale Bühnenerlebnisse, was ihm verständlicherweise manche Sänger verübeln.
Auch wenn Jürgen Kesting viele historische wie gegenwärtige Sänger nicht oder nur unzureichend würdigt (was sich nicht vermeiden lässt): Es ist sein großes Verdienst, dass er nicht nur sängerische Traditionslinien, sondern auch stilistische Aufbrüche und Rückbesinnungen verdeutlicht, Initiativen und ihre Folgen, und zwar in England, Russland, Amerika, Italien und Deutschland. Was er über Richard Wagners Anschauungen vom Singen, über den Niedergang Bayreuther Gesangskultur, über Verdis Credo des Singens, über Belcanto- und andere Gesangs-Schulen zusammengetragen hat, ist in dieser Ausführlichkeit beispiellos. Die Fülle der eingestreuten Zitatenschätze ist erdrückend. Die quasi stimm-chirurgische, sterile Präzision, mit der Kesting den Stimmen (die Menschen, denen sie gehören, die Darsteller auf der Bühne interessieren ihn kaum) zuleibe rückt und mit gesangstechnischen, stimmphysiologischen wie ästhetisch-stilistischen Parametern analysiert, mag den einen oder anderen Leser befremden angesichts der Fülle von einschüchternen Fachbegriffen, mit denen Kesting jongliert. Dennoch sind diese vier dicken Bände ein nicht zu ignorierendes Wissens-Kompendium, das Opus summum des führenden deutschen Gesangskritikers.
Dieter David Scholz