Heise, Jutta

Die Geigenvirtuosin Wilma Neruda (1838-1911)

Biografie und Repertoire

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Olms, Hildesheim 2013
erschienen in: das Orchester 09/2013 , Seite 69

Sie war eine der ersten international bekannten Violinvirtuosinnen der Musikgeschichte. Aber warum kennen alle Paganini, viele Musikliebhaber Joseph Joachim, aber nur wenige Musikhistoriker Wilma Neruda? Jutta Heise schrieb mit ihrer Dissertation das erste umfangreiche Buch über die Geigerin. Darin veröffentlichte sie auch erstmals das Reisetagebuch Wilma Nerudas, das diese über ihre Südafrikatournee 1895 verfasste.
Jutta Heise geht in ihrer Untersuchung streng wissenschaftlich vor. Das erste Kapitel ist den Quellen gewidmet. Dann beschreibt sie die Methode ihrer Arbeit, welche die Biografie in einen zeitgeschichtlichen Kontext stellt, wobei vor allem die Genderforschung im Zentrum steht. „Wie unterscheidet sich die Karriere Wilma Nerudas von Laufbahnen männlicher Kollegen?“, ist eine ihrer zentralen Fragen.
Die Biografie nähert sich der Künstlerin als „reisender Geigenvirtuosin“. Wilma Neruda war ein Wunderkind. Der Vater, Organist in Brünn, erkannte ihre hohe Begabung, gab die eigene Stelle auf, um sich ganz der Erziehung des Mädchens und dessen begabten Geschwistern zu widmen.
Er reiste mit seinen Kindern wie einst Leopold Mozart durch ganz Europa. Dass Mädchen als Wunderkinder öffentlich auftraten, verstieß nicht gegen die damaligen Konventionen. Doch nach der Pubertät galt es für eine Frau als unschicklich zu konzertieren. Wilma Neruda durchbrach diese Schranken. Ihre Karriere führte sie ins tolerantere Schweden und nach Großbritannien, und sie unternahm Tourneen nach Australien, Südafrika und Amerika.
Jutta Heise dokumentiert die Reisen und die Karriere sehr detailliert. Anschließend untersucht sie das „Leben und die Karriere unter der Genderperspektive“. Hier kann der Leser Interessantes zur Rolle der Frau in der Musik erfahren. Dadurch wird deutlich, wie schwierig es für Wilma Neruda war, sich gegenüber männlichen Virtuosen durchzusetzen. Die Art ihres Spiels, ihre äußere Erscheinung und ihre Wirkung auf das Publikum, das Verhältnis zu ihren beiden Ehemännern, ihre Rolle als eigene Managerin, wie sie Künstlerkarriere und Mutterrolle in Übereinstimmung brachte – diese und viele weitere Fragen untersucht Jutta Heise in ihrer klaren, gut lesbaren Sprache.
Dabei entsteht das Bild einer Violinvirtuosin, die nicht wie Paganini auf eine Überwältigung des Publikums durch stupende Technik setzte, sondern den Werken, die sie spielte, als Interpretin diente. Ihr Repertoire reichte von Bach bis zu Komponisten ihrer Zeit wie Busoni. Sie spielte die großen Violinkonzerte von Beethoven bis Brahms, aber ebenso Kammermusik. Damit war sie nicht nur eine Pionierin der Frauenemanzipation, sondern auch eines neuen Verständisses von Virtuosität, die der musikalischen Interpretation untergeordnet ist. Das große Verdienst von Jutta Heise ist, dass sie diese große Musikerin für unsere Zeit wiederentdeckt hat.
Franzpeter Messmer

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