Hall, Barbara
Die Geigenlehrerin
Roman
In einer Edition zum Thema Musik und Literatur ist der neue Roman der amerikanischen Autorin Barbara Hall erschienen; durchaus verständlich, lautet doch der Romantitel Die Geigenlehrerin. Im Mittelpunkt der Romanhandlung steht die 40-jährige Pearl Swain, geschieden, kinderlos, Geigenlehrerin in einem Musikladen in Los Angeles. Eines Tages taucht ein Mädchen namens Hallie Bolaris auf und entpuppt sich sogleich als
das, was man wohl Wunderkind nennt.
Mit Beginn des Geigenunterrichts verschränken sich nun die Lebensgeschichten beider Figuren. Denn die Lehrerin, die ihr Engagement, ja ihren Ehrgeiz daran setzt, aus ihrer Schülerin das zu machen, was ihr selbst versagt blieb nämlich eine Konzertgeigerin , muss nun abermals das Scheitern eines solchen Lebenstraums erleben. Undurchschaubare Verhältnisse im Haus der Stiefeltern (sexueller Missbrauch des Stiefvaters gegenüber dem Mädchen?) lassen den Geigenunterricht in dem Augenblick abbrechen, als die Lehrerin versucht, sich zugunsten ihrer Schülerin in die familiären Verhältnisse einzuschalten. Damit wiederholt sich in ähnlicher Weise das, was Pearl Swain in ihrer Jugend selbst als traumatisches Erlebnis erfahren musste. Ihr eigener Vater, eifersüchtig auf die zunehmende Entfremdung seiner Tochter, vernichtet das Symbol der autonomen Welt der Tochter: die Geige. Während Pearl Swain am Ende des Romans mit einem erheblich jüngeren Mann ihr vorläufiges Lebensglück findet, bleibt die Zukunft von Hallie völlig offen.
Angereichert ist der Roman mit Reflexionen über Musik, die Welt und vor allem denn über Geschlechterbeziehung. Da finden sich dann bemerkenswerte Sätze wie: Auf einmal erinnere ich mich, warum es so schwierig ist, jemanden zu lieben. Man muss mit den Gefühlen eines anderen fertig werden.
Die Musik, die in diesem Roman im Mittelpunkt steht, ist eindeutig die des Rocks, Bluegrass, ansatzweise auch Jazz. Bach und Mozart, ein oder zweimal erwähnt, wirken in diesem Kontext befremdlich. Je weniger der Roman von Geigenspiel und Partiturarbeit zu berichten weiß, umso mehr wird der Topos deutlich, bei dem er implizit Anleihen macht: Es ist der romantisierende, fast zum Kitsch geronnene vom Wunderkind, das der Unbill einer bösen Welt ausgeliefert ist. So etwas ist ein Stoff für Hollywood-Filme und es ist bezeichnend, dass die Autorin mit einem gewissen Adam Pearce gleich noch eine Wunderkindfigur (für Mundharmonika) dazu erfindet.
Mag sein, dass man die Koppelung von moderner Lebenswelt und kindlichem Geniekult als typisch für die Collagetechnik eines gegenwärtigen Romans ansieht; es mag aber auch sein, dass es günstiger gewesen wäre, wenn der im Hinblick auf die Erfassung moderner Beziehungskühle präzise Roman von der Forcierung kindlicher Genialität im Bereich der Musik Abstand genommen hätte.
Winfried Rösler