Weill, Kurt
Die 7 Todsünden / Quodlibet op. 9 aus der Pantomime “Zaubernacht” op. 4
1933 schufen Bertolt Brecht und Kurt Weill im Pariser Exil als Auftrag von Georges Balanchine ihr letztes Gemeinschaftswerk Die sieben Todsünden. Die junge Anna wird von ihrer Familie für sieben Jahre in die großen Städte Amerikas geschickt, um Geld für ein kleines Eigenheim in Louisiana zu verdienen eine bittere Satire auf die kleinbürgerliche Doppelmoral, die unmoralisches Verhalten zugunsten des materiellen Vorteils fordert. Die mittelalterlichen sieben Todsünden (Faulheit, Stolz, Zorn, Völlerei, Unzucht, Habsucht und Neid) werden positiv umgedeutet als jene berechtigten menschlichen Bedürfnisse, die sich der Spießbürger nicht erlaubt. Anna ist in diesem Ballet chanté eine gespaltene Persönlichkeit: die Sopranistin Anna I das vernünftige Gewis-sen, Anna II die zur Ware degradierte Tänzerin, die zu allem nur Ja, Anna sagt. Die Familie singt ein Männergesangsquartett, nach dem Motto Müßiggang ist aller Laster Anfang.
Diese neue CD des SWR Rundfunkorchesters Kaiserslautern unter der Leitung seines Chefdirigenten Grzegorz Nowak bringt Die sieben Todsünden auf den vor allem von Bläsern und Klavier geprägten Punkt. Mit nur dem nötigsten Rubato leuchten der weiterentwickelte Songstil und die kunstvoll stilisierten Modetänze unmittelbar ein. Allenfalls könnte die Nr. 3 Zorn etwas mehr agitato sein. Fast überflüssig zu betonen, wie sehr die Sopransolistin Anja Silja hier in ihrem Element ist: Ihre Intonation und Textverständlichkeit sind ebenso vorbildlich wie einst bei der legendären und kaum zu übertreffenden Uraufführungsinterpretin Lotte Lenya und die dabei wahrhaft gesangliche Gestaltung verfällt nicht in den Fehler so manch klassischer Sängerin, Brecht/Weills Anna mit pseudo-opernhaftem Pathos zu überfrachten. Mehr als assistiert wird Anja Silja von vier sehr guten jungen Männerstimmen aus dem SWR Vokalensemble Stuttgart.
Diese hervorragende CD enthält außerdem einen seltenen Einblick in die Berliner Studienzeit des Komponisten, nämlich das Quodlibet op. 9 aus der Pantomime Zaubernacht op. 4. Die originale Partitur dieser Pantomime für neun Instrumente von 1922 galt als verschollen und wurde inzwischen von dem Musikwissenschaftler Meirion Bowen rekonstruiert; hier haben wir nun Weills ein Jahr später entstandene, groß besetzte orchestrale Essenz daraus vor uns. Rührend die formal freie, musikalische Mischung aus Einflüssen von Gustav Mahler und Paul Hindemith, die von seinem (neben Engelbert Humperdinck und Philipp Jarnach) wichtigsten Lehrer Ferruccio Busoni gelernte Übersicht, die bereits souveräne Orchesterbehandlung des 22 Jahre jungen Weill, die heiter zauberhafte Atmosphäre der vier Sätze.
Auch hier entlockt Grzegorz Nowak seinem SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern eine frisch leuchtende Durchsichtigkeit, eine wunderbar hingebungsvolle Prägnanz, die nur leider durch zu viel Hall etwas getrübt wird. Die verspielten Soli und strahlenden Tutti sind aber immer noch faszinierend.
Ingo Hoddick