Mahler, Gustav

Des Knaben Wunderhorn

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hänssler Classic CD 93.274
erschienen in: das Orchester 02/2012 , Seite 73

Ein aus dem Nichts heraufgrollender Paukentusch, gefolgt von einem Bläserappell, der den trotzig grimmigen Ausruf der Schildwache untermau­ert, wirft den Hörer sofort ins Geschehen. „Ich kann und mag nicht fröhlich sein! Wenn alle Leute schlafen, so muss ich wachen,“ schimpft der Bariton, „Lieb Knabe, du musst nicht traurig sein! Will deiner warten, im Rosengarten“, besänftigt die tröstliche Elegie des weiblichen Gegenparts seinen nächtlichen Groll. Bereits in diesen ersten Phrasen spiegelt sich die vorherrschende Klangsprache von Mahlers Wunderhorn-Zyklus wieder, dieser eigentümlichen Mischung aus naiv verspielter Kindlichkeit und gespenstisch düsterer Unheimlichkeit, aus poetischer Schlichtheit und himmlischem Naturidyll.
Gustav Mahlers Des Knaben Wunderhorn basiert auf Gedichten aus anonymen Quellen, die aus dem 12. Jahrhundert stammen. Zwischen 1805 und 1808 sammelten die beiden romantischen Dichter Clemens Brentano und Achim von Arnim die Texte auf der Suche nach „Alten Deutschen Liedern“, indem sie Mägde, Bauern und Menschen aus dem Volk baten, ihnen die Miniaturen vorzutragen. Mahler vertonte daraus insgesamt 25 Texte, teils kammermusikalisch, teils orchestriert, wobei heute meist nur zwölf von ihnen zum so genannten Wunderhorn-Zyklus gerechnet werden.
Vorliegende CD präsentiert diese Zwölfer-Serie aus den Jahren 1892 bis 1898 und ergänzt sie um die beiden Lieder Urlicht und Das himmlische Leben aus den Wunderhorn-Sinfonien Nr. 2 und Nr. 4 sowie den sinfonischen Blumine-Satz. Vor allem dem Bariton muten einige Piecen so manch musikalische Klippe zu, die bereits etliche hinabstürzten, indem sie den dra­matischen Wendungen so viel Inbrunst widmeten, dass die innigen Passagen ihnen sowohl stimmlich als auch interpretatorisch zum Opfer fielen. Revelge ist ein Paradebeispiel für das virtuose Zusammenspiel von einem unbedingt ausgewogenen Umgang mit ausdrucksstarker stimmlicher Vehemenz einerseits und sensiblem Legatogefühl andererseits. Hanno Müller-Brachmann gewinnt hierbei den Kampf gegen die Tücken der Komposition und zeigt sich, wie auch im Lob des hohen Verstandes oder der Fischpredigt als versierter Stimm-Akrobat mit der nötigen Prise mutiger Lässigkeit und augenzwinkerndem Humor, zu der ihn die Textvorlage inspiriert.
So dramatisch die Sopranistin Christiane Iven sich im Irdischen Leben zeigt, so ätherisch und engelsgleich tönt sie im Urlicht. Gleichsam berückend zart schwebt ihre vom Grundklang eher sonore Stimme in Das himmlische Leben wie ein gazeartiger Baldachin über der weltlichen Unrast, wenn sie die unsanglich in den Himmel getupften Staccato-Spitzentöne in den dreifach wiederkehrenden lyrischen Strophenabschlüssen abfedert. Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg begleitet die Eskapaden der Interpreten unter Leitung seines ständigen Gastdirigenten Michael Gielen mit ausdrucksstarker Verve. Klanglich hervorragend ausbalanciert, geht Gielen dabei keine unnötigen Risiken ein. Transparent und klar, manchmal beinahe kammermusikalisch wirkt der Orchesterteppich, wenn auch einige extrovertiertere Töne dem breiten Stimmungsspektrum der einzelnen Kompositionen gut getan hätten.
Kathrin Feldmann