Audebert, Fritz

Der Ton macht die Musik

Interkulturelles Training für Orchester

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 03/2009 , Seite 27
Nicht nur in einem deutschen Orchester treffen Menschen verschiedenster Kulturen und Nationalitäten zusammen. Ein multinationaler und -kultureller Kollegenkreis ist längst selbstverständlicher Bestandteil des Musikerberufs. Doch birgt genau diese Selbstverständlichkeit die latente Gefahr, dass kultur- wie nationalitätenbedingte Unterschiede einfach negiert werden und unterschwellig dann doch für Konfliktpotenzial sorgen. Dabei würden ein paar einfache Regeln, Einsichten und das Bewusstmachen der Unterschiede schon vielen möglichen Konflikten und interkulturellen Fettnäpfchen vorbeugen. Kulturelle Kompetenz lässt sich trainieren.

Interkulturelle Kompetenz, also die Fähigkeit, mit Menschen anderer Kulturkreise erfolgreich zu kommunizieren und zu agieren, ist wie viele andere Kompetenzen, wie z.B. die Sozialkompetenz, individuell unterschiedlich ausgeprägt. Manche Menschen verhalten sich schon in jungen Jahren interkulturell sehr kompetent, andere entwickeln diese Fähigkeit aufgrund besonderer Umstände oder weil sie entsprechend gefördert werden.
Interkulturelle Kompetenz ist eine Fähigkeit, die sich lernen lässt. Interkulturell kompetent ist jemand, der im Umgang mit Menschen anderer Kulturen in der Lage ist, sich in das Denken und Fühlen seines Gegenübers ebenso wie in die innere Logik der kulturell bedingten Wahrnehmung und Handlungsursachen hineinzudenken. Um interkulturelle Kompetenz erlernen zu können, ist neben emotionaler Kompetenz also interkulturelle Sensibilität und natürlich die Bereitschaft zum Dazulernen notwendig. Zu diesem Prozess gehört z. B. auch das Bewusstmachen eigener Vorurteile gegenüber Personen anderer Kulturkreise sowie deren Verhaltens- und Denkweisen.
Neben fachlichen Fähigkeiten ist interkulturelle Kompetenz für die erfolgreiche Zusammenarbeit und für gelungene Koordina­tionsprozesse mit internationalen Kollegen also eine wichtige Schlüsselqualifikation. Dies gilt nicht nur für Unternehmen der freien Wirtschaft, sondern in besonderem Maße auch für Orchester. Denn hier finden sich regelmäßig Personen zahlreicher Nationalitäten und Kulturen zum gemeinsamen Arbeiten zusammen. Diese traditionelle, quasi branchenspezifische Besonderheit der Orchester hat sich durch die Öffnung des Ostblocks und der fortschreitenden Globalisierung weiter verstärkt. Immer mehr wird die Arbeit im Orchester auch durch interkulturelle Aspekte beeinflusst.
Die räumliche Nähe bei der Ausübung des Berufs und vor allem auch die besondere Form der intensiven Zusammenarbeit in deren höchster Form, nämlich im Team, erfordern mehr als anderswo interkulturelle Kompetenz der Mitarbeiter. Im Orchester arbeiten bisweilen mehr als hundert Spitzenkräfte permanent auf dem störanfälligen Grat von individueller kreativer Höchstleistung bei gleichzeitiger Unterordnung unter den Gesamtklang des Kollektivs, der wiederum gesteuert wird vom Dirigenten. Die Teamleistung eines Orchesters ist insofern kaum teilbar. Das Ausgliedern und Einkaufen von Einzelleistungen, wie es bei Wirtschaftsunternehmen nicht nur möglich, sondern auch üblich ist, funktioniert hier nicht. Denn: Das gesamte Team muss zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort präsent sein, um eine fein aufeinander abgestimmte, gemeinsame Leistung zu erbringen.

Kulturunterschiede erkennen
Die enge Zusammenarbeit im Orchester begünstigt eine intensive Kommunikation zwischen den Orchestermitgliedern, aber auch Spannungen, die schneller auftreten können und eben aufgrund der besonderen Art der Arbeit schwieriger zu umgehen sind. Derartige Konflikte bei der Erarbeitung einer Aufführung sind störend für den Erfolg, führen zu Ineffizienz, Unzufriedenheit im Berufsalltag und bisweilen gar zu psychischen Konflikten und Belastungen. Dies wirkt sich auf die Gesamtleistung aus, insbesondere bei einem solchermaßen vom Gesamtteam abhängigen und sensiblen „Produkt“ wie einer Musikaufführung. Hier gilt es, interkulturell unterschiedliche Verhaltensweisen und Ansätze zu respektieren, richtig zu interpretieren und dadurch unnötige, die Produktivität hemmende Konflikte zu vermeiden.
Um Kulturunterschiede zu erklären und zu verdeutlichen, helfen bildhafte Klischees oft weiter. Wenn wir bei der Musik bleiben, so wäre das passende Bild für Deutschland etwa das Sinfonieorchester. Es symbolisiert Einheit, Ernsthaftigkeit und eine gewisse Förmlichkeit, die jedoch tiefe Gefühle zum Vorschein bringen kann. Die Slowakei wäre beispielsweise mit einer Jazzband zu vergleichen: Improvisationstalent, geselliges Zusammensein und das Pflegen von freundschaftlichen Beziehungen haben Vorrang. La Opera als Symbol für Italien steht für Ausdrucksstärke und ein öffentliches Interesse an persönlichem Schicksal (Martin J. Gannon: „Understanding Global Cultures“, in: Metaphorical Journeys through 23 Nations, 2/01, S. 305-322). Während man im Mittelmeerraum eher beziehungsorientiert ist und zum „warm werden“ eine Ouvertüre wie in der Oper braucht, bevor man zur Tagesordnung übergeht, kommen die Deutschen – ganz sachorientiert – gleich auf den Punkt. Marschmusik wäre hier ein möglicher Vergleich. In der Kommunikation mit Menschen aus verschiedenen Kulturen gilt vor allem also eins: Der Ton macht die Musik. Und am besten natürlich der richtige Ton.
Im Rahmen eines interkulturellen Trainings lernen die Teilnehmer im ersten Schritt ein grundlegendes Verständnis und die Offenheit für den Einfluss von Kultur auf unser Handeln sowie für die Bedeutung von interkultureller Kompetenz in internationalen Teams. Mit Hilfe interaktiver und erlebnisorientierter Elemente lassen sich Selbst- und Fremdwahrnehmung, die Bedeutung von Hierarchien und Status, Zeitverständnis und Arbeitsrhythmus im internationalen Vergleich sowie effektives Konfliktmanagement gut veranschaulichen. Im weiteren Schritt werden Möglichkeiten der Kommunikationsoptimierung deutlich, etwa beim Vertrauens- und Beziehungsaufbau in internationalen Teams.
Ein Selbsteinschätzungsverfahren (Intercultural Preference Tool, IPT) rundet den Lernprozess der Teilnehmer ab. Dieses ermöglicht jedem Einzelnen, seine individuellen kulturellen Präferenzen im Arbeitskontext anhand von so genannten Kultur­dimensionen zu erfassen und zu analysieren. Kulturdimensionen sind z. B. Sach- oder Beziehungsorientierung bei der Arbeit, Bevorzugung bzw. Ausübung von direkter oder indirekter Kommunikation, Hierarchie- oder basisdemokratisches Denken. Für jeden Musiker lässt sich auf diese Weise ein individuelles Profil erstellen, das in einem weiteren Schritt anhand eines Netzdiagramms mit dem Kulturprofil von bis zu vierzig anderen Ländern – zum Beispiel Deutschland, China oder Russland – verglichen werden. Dabei muss das eigene Profil nicht mit dem Heimatland-Profil übereinstimmen, sondern kann gerade bei Menschen mit starker internationaler Ausrichtung eine Mischung aus verschiedenen Kulturen beinhalten. Zum Trainingsabschluss findet im idealen Fall eine Verständigung auf gemeinsame Kommunikationsregeln statt. So steht dem „richtigen Ton“ im internationalen Orchester-Team nichts mehr im Wege und die fachliche Leistung des einzelnen Musikers kann im Gesamtensemble ideal zur Geltung kommen.

Mögliche Gestaltung eines Seminartags „Interkulturelles Training für Orchester“

Warm Up
> Vorstellung des Trainerteams/des Trainers
> Interaktive und interkulturelle Vorstellung der Teilnehmer
> Vorstellung der Erwartungen, Programm bzw. Zeitablauf

Einstiegs-Übung
> Konfrontation mit der Fremde am Orchesterbeispiel
> Erleben von Fremdheit, Unbestimmtheit und Unklarheit von „Regeln“

Vorurteile und persönliche interkulturelle Erfahrungen
> Vorurteile: hilfreich oder schädlich? (Am Beispiel von Vorurteilen etwa gegenüber anderen Instrumentengruppen und gegenüber Musikern aus anderen Kulturen)
> Welche Erfahrungen haben die Teilnehmer bisher im Kontakt mit Orchester-Mitgliedern anderer Kulturen gemacht?
> Übung: Welche Vorurteile bestehen möglicherweise gegenüber anderen Kulturen?
> Was ist typisch deutsch? Was ist typisch für andere Kulturen (Beispiele aus dem Team)?

Was bedeutet interkulturelle Kompetenz?
> Was ist Kultur? (Eisbergmodell, interkulturelle Missverständnisse)
> Wie beeinflusst Kultur unser Handeln im (Arbeits-)Alltag?

Wahrnehmung
> Wodurch entstehen interkulturelle Missverständnisse?
> Nationalkultur, Subkulturen und Orchesterkultur
> Ein neues, internationales Orchester: Kulturschock und Integrationsstrategien

Kulturelle Unterschiede auf einen Blick
> Wie unterscheiden sich Kulturen voneinander?
> Interaktive Vorstellung von zentralen Kulturdimensionen und Kulturstandards
> Beziehungs- und Sachorientierung, Vertrauens- und Beziehungs­aufbau im internationalen Team
> Individualismus vs. Gemeinschaftsorientierung
> Umgang mit Ungewissheit
> Zeitmanagement
> Arbeitsstil: Analytik vs. Pragmatik, Rationalität vs. Intuition, Zeitplanung

Übung
> Analyse einer konkreten internationalen Teamarbeitssituation. Übertragung auf das Orchester-Team
> Ziel: Erkennen von Kulturunterschieden und kulturell divergierenden Werten und Normen

Erfolgreich international kommunizieren
> Grundlagen der Kommunikation
> Direkte vs. indirekte Kommunikation
> Formeller und informeller Kommunikationsstil
> Der Ton macht die Musik: Zwischen den Zeilen lesen und subtile Kommunikation
> Nonverbale Kommunikation

Wrap Up und Aktionsplan:
> Was nehme ich mit? Mein persönliches „Aha-Erlebnis“
> Meine interkulturelle Erfolgsstrategie für die Zukunft

Mündliches und schriftliches Feedback