Capriolo, Paola

Der stumme Pianist

Roman

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: C. Bertelsmann, München 2011
erschienen in: das Orchester 02/2012 , Seite 65

Im Mai 2005 ging die Nachricht durch die Presse, an einem Strand in der Grafschaft Kent sei ein junger Mann in völlig durchnässtem Abendanzug aufgefunden worden, der Gedächtnis und Sprechvermögen verloren zu haben schien. Als man ihm ein Blatt Papier gab, habe er darauf einen Konzertflügel gezeichnet und, vor ein entsprechendes Instrument gebracht, ein zweistündiges klassisches Konzert auf hohem Niveau gegeben. Doch Herkunft und Identität des „Piano-Manns“, wie der Findling bald genannt wurde, blieben trotz umfassenden Suchens zunächst ein Rätsel.
Diese reale Begebenheit zu einer Romanhandlung zu entwickeln, reizte die italienische Autorin und Übersetzerin Paola Capriolo, von der bisher zwei Romane auf Deutsch erschienen sind. Nun liegt als dritter auch ihr Il pianista muto in deutscher Übersetzung vor: ein Buch, das vom Einfluss der Musik auf die menschliche Seele handelt und von ihrer Fähigkeit, Verdrängtes wieder an den Tag zu bringen.
Dem Inhalt gemäß ist Der stumme Pianist eine ruhige, an äußeren Ereignissen arme Schilderung, die in ihrem Hauptstrang linear verfährt, sich dabei jedoch aus den wechselnden Perspektiven unterschiedlicher Erzähler zusammensetzt: Personal und Insassen jener psychiatrischen Klinik, in deren Nähe der Unbekannte gefunden wird.
Der bis dahin vernachlässigte Wintergarten des ehemaligen Herrenhauses, in dem diese Klinik untergebracht ist, wird zum Zentrum der Geschehnisse. Hier entstaubt man den alten Steinway, der bisher ein unbeachtetes Dasein fristete. Erst zögernd, dann regelmäßig greift der Unbekannte nun spätnachmittags in die Tasten, wobei er das Publikum aus Ärzten, Pflegern und Patienten, das ihm gebannt lauscht, kaum wahrzunehmen scheint.
Was ärztliche psychiatrische Behandlung im Gespräch nicht schafft, gelingt ausgerechnet dem stummen, doch mit Tönen umso beredteren Musiker. Sein Spiel dringt in die versteinerten Seelen und weckt Erinnerungen. Die Wirkung der Klänge verwandelt die Menschen, doch nicht immer in heilsamer Weise. Für die Krankenschwester Nadine, die den rätselhaften Unbekannten entdeckte, wird die Begegnung zum beruflichen Karriereknick, für den alten Rosenthal, einem traumatisierten KZ-Überlebenden, zum Anlass, den Freitod zu suchen.
Unterbrochen wird die Haupthandlung durch Einschübe in kursivem Druck. Sind es Echos der Außenwelt, Wortmeldungen von Personen, die den stummen Klavierspieler anhand von Zeitungsfotos wiederzuerkennen glauben? Oder deutet sich hier eine Art mythologische Ebene an? Ist der Findling ein musikalisches Gegenstück zum an wechselnden Orten herumirrenden „Ewigen Juden“, vielleicht auch eine Personifikation von Schuberts Wanderer aus der Winterreise? Denn das Motiv des „Leiermanns“ aus deren letztem Lied wird mehrfach im Roman aufgegriffen, und nicht zuletzt bildet es den pianistischen Epilog des Unbekannten, bevor er, die Klinik unbeobachtet verlassend, zu neuer Wanderschaft ins Ungewisse aufbricht.
Gerhard Dietel