Olivier, Philippe

Der Ring des Nibelungen in Bayreuth von den Anfängen bis heute

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2007
erschienen in: das Orchester 12/2007 , Seite 78

Es ist ein Prachtband, den Autor und Verlag vorgelegt haben: Eine Dokumentation über ein besonderes Werk an einem besonderen Ort, eine Hommage an Künstler jedweder Couleur und Mitarbeiter jeglichen Gewerks, denen die 14 Inszenierungen, die 195 Zyklen und die 780 Aufführungen des Ring von 1876 bis 2006 zu danken sind. Und es ist ein Arbeitsbuch, das Fotos von Darstellern und Kostümen, Bühnenbildern und Dokumenten präsentiert, das Memoiren, Interviews und Veröffentlichungen aller Art auswertet, um einen „breiten und tiefen Einblick in die nie stillstehende Ring-Werkstatt der Festspiele“ (Wolfgang Wagner) zu gewähren.
Die Rezeptionsgeschichte von Wagners „Kunstwerk der Zukunft“, dessen mythische Gewalt, kritische Energie und utopisches Potenzial gleichermaßen zeitgebunden wie unauslotbar sind, dessen „Sonderstatus“ in der Welt des Geistes und der Musik auch das Festspielhaus mit der Einzigartigkeit seines Orchestergrabens und doppelten Portals offenbart, tut sich auf. Und die schöpferischen Herausforderungen, denen die Mitwirkenden immer wieder folgen, waren auch dem Buch-Autor und Filmproduzenten Philippe Olivier Anreiz. Sein groß angelegter Essay, eine brillante Synthese, die Regiekonzepte und Aufführungspraxis unter soziologischen, weltgeschichtlichen, kulturhistorischen, unter musik- und theatergeschichtlichen Aspekten (kritisch) betrachtet, zeigt ihn als Experten: Wagner ist sein großes Thema, assoziationsreiche Vermittlung seine Kunst, die langjährige Anwesenheit auf dem grünen Hügel als Mentor des französischsprachigen Publikums seine Chance. Darum vermag er es, die Erzählweisen der Bayreuther Regisseure, ihre politisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen, ihre Theaterästhetiken und technischen Mittel der Realisierung als Leitfaden über sieben Etappen hinweg zu spinnen.
Hundert Jahre war – mit Ausnahme von 1933 – der Ring Familiendomäne. Richard, Cosima und Siegfried führten „Regie“ und steuerten in Untiefen von Germanenkult, Hohenzollern-Verehrung und völkischer Verzückung. 1951 dann Tabula rasa: Wieland und Wolfgang entrümpelten geistig und innovierten künstlerisch; die psychologische Tiefe und menschliche Größe ihrer Inszenierungen brachten Aufbruch. 1976 schufen Chéreau/ Boulez/Peduzzi als erste Gäste ihren „Jahrhundert“-Ring, der aus Götter-Mythos und Wagner-Zeit bildstark Sprengkraft für den Zeitgeist gewann. Ein Skandal – und 1980 als Legende mit 90 Minuten Beifall und 101 Vorhängen verabschiedet. Über Kupfer/Barenboim/Schavernoch/Heinrichs „Straße der Geschichte“ (1988) mit ihrer Fundamental-Kritik an der Zerstörung von Mensch und Natur, ihrer genialen Lichtkunst und beredten Körpersprache und dem schimmernden „Prinzip Hoffnung“ oder Kirchner/Levine/rosalies „Mythen des Alltags“ (1994), die trotz poetischen Zaubers und technischen Luxus auf die leere Weltbühne zusteuern, bis zu Dorst/Ehler/Thielemann/ Schlößmann/Skodzigs Ring von 2006 bestimmen die Spur des Mythos ins Heute und die Rückbesinnung der Gegenwart auf ihre historischen und geistigen Wurzeln die künstlerischen Aneignungs- und Produktionsprozesse. Am Ort von Wagners ersehnter „Musteraufführung“ gewinnen sie Freiheit über dem Walten der Notwendigkeit. Und Zustimmung wie Protest sind treue Begleiter.
Eberhard Kneipel