Wagner, Richard
Der Ring des Nibelungen
Wagners Nibelungen-Tetralogie ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen an jedes Musiktheater, szenisch wie musikalisch. Um so erstaunlicher, dass in den vergangenen Jahren außerhalb Bayreuths so viele Ringe aus dem Boden schossen, wie nie zuvor. Freilich ist nicht alles Gold, was glänzt. Einer der am meisten gepriesenen Ringe war eine Stuttgarter Produktion, die Intendant Klaus Zehelein 1999/ 2000 herausbrachte. Über die Walküre berichteten wir in Das Orchester 7-8/04. Der nun komplette Mitschnitt des Stuttgarter Rings bietet jedem die Möglichkeit zu überprüfen, ob er tatsächlich das viel beschworene, herausragende Theaterereignis war oder nur ein Zeitgeist-Event.
Es beginnt in der Badeanstalt. Weder Bergeshöhen noch eine Götterburg sind zu sehen, wenn das Walhall-Thema im Stuttgarter Rheingold erklingt. Banale Alltagswirklichkeit stattdessen im Eingangsbereich einer nostalgischen Schwimmhalle, in der ein Sängerensemble eingeschlossen ist. Womöglich hat Regisseur Joachim Schlömer die schweizerische Heilwasseranstalt Albisbrunn mit seiner Szene gemeint, in der Richard Wagner immer wieder seine diversen Haut- und Unterleibsprobleme zu kurieren versuchte. Doch Schlömer inszeniert mitnichten aus der entstehungsgeschichtlichen, der wagnerbiografischen Perspektive.
Und doch ist dieses Rheingold im Kurbad mit Sprudel- und Trinkbrunnen noch der einleuchtendste der vier Abende dieser Tetralogie, die man in Stuttgart mit vier Regisseuren stemmte, neben Joachim Schlömer noch Christoph Nel (Walküre), Jossi Wieler (Siegfried) und Peter Konwitschny (Götterdämmerung). So unterschiedlich wie die Handschriften der Regisseure fallen die einzelnen Teile dieses Rings optisch und konzeptionell aus. Gemeinsam ist ihnen allenfalls die Absicht, kein Ideendrama über die schuldhafte Verstrickung von Macht und Liebe, keine kapitalismuskritische, politische Parabel des 19. Jahrhunderts zu erzählen, wie Patrice Chéreau es in seiner legendären Bayreuther Inszenierung von 1976 unternahm.
Der Stuttgarter Ring gefällt sich darin, Mythos und Pathos, Historizität und Politik zu demontieren. Nach Schlömers kammerspielartigem, sehr konkretem Rheingold wird man in Christoph Nels Walküre ganz in die Innenwelt eines Psychogramms geworfen, ohne feste Örtlichkeit außer heutiger Kleinbürger-Alltäglichkeit in Ästhetik und Anspruch. Nichts gegen die menschliche Natur, die nicht immer nur schön ist. Aber es scheint, als dürften im heutigen Zeitgeist-Theater auch nur noch ausgesprochen hässliche Stimmen singen. Die Kunst des Singens, Gesangskultur jedenfalls scheint in diesem Ring nicht vorrangiges Ziel gewesen zu sein, seis aus Mangel an verfügbaren Stimmen, seis aus künstlerischer Überzeugung. Dieser Ring beschäftigt neben vier Regisseuren auch drei hochdramatische Brünnhilden, zwei Heldentenöre für den Siegfried und drei Wotan-Sänger.
Das Stuttgarter Experiment einer Ring-Inszenierung mit vier Regisseuren ist wohlwollend gesagt ein radikaler Neuansatz nach vielen neuromantischen Versuchen, epigonalen Kopien und viel Theaterroutine und Unverbindlichkeit. Man mag darin den Willen zur postdramatischen Verweigerung stringenter Geschichten im Theater erkennen. Aber auch das Eingeständnis, Wagner und seine eindeutigen Intentionen nicht mehr ernst nehmen zu wollen. Ein Kulminationspunkt des so genannten Regietheaters darf dieser Ring deshalb genannt werden, in dem sich alle vier Regisseure beherzt und ungeniert über sämtliche Anweisungen Wagners und über den gesungenen Text, der ja keinen Zweifel lässt, hinwegsetzten.
Um Beispiele zu geben: Mime, Siegfrieds Ziehvater, muss in der ersten Szene des Siegfried den Jossi Wieler erstaunlich blass und ohne jeden doppelten Boden inszeniert anstatt am Amboss zu hämmern in einer kleinbürgerlichen Küche Kartoffeln schälen und mit dem Schälmesser auf eine Aluminiumschüssel klappern. Warum, wird nicht verraten. Heinz Göhring macht aus ihm keinen hässlichen Klein Zack, keinen listigen, bösartigen Schwarzalbe, eher einen verklemmten Spießer, der bei seiner Drachenvision auf dem Sofa liegen und onanieren muss. Was der Regieeinfall zur Erhellung des Stücks beiträgt, mag jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden. John Fredric Wests Siegfried als Schmuddel-Riesenbaby mit Wampe und schmieriger, kunstblonder Langhaar-Perücke ist alles andere als ein strahlender Held und schon gar nicht der neue, freie Mensch des utopischen Revolutionärs Richard Wagner. Eher eine Lachnummer.
Wagners Kosmogonie, sein Welterschaffungsdrama, seine politische Parabel aus dem Geiste Marx, Bakunins und Schopenhauers ist in dem Stuttgarter Ring nicht mehr im Ansatz erkennbar. Dass man die Tetralogie nicht mit Zwergen, Drachen, Riesen, Helden und Göttern inszenieren muss, dass man sie ohne Gebirge, Feuer und romantischen Naturzauber auf die Bühne bringen kann, haben seit der neubayreuther Entrümpelung Wieland Wagners 1951 viele begriffen und szenisch demonstriert. Auf je unterschiedliche Weise.
Es ist jedoch deprimierend festzustellen, dass weder die Regisseure noch der Dirigent Lothar Zagrosek, der die musikalischen Fäden dieses Rings immerhin respektabel in Händen hält, Wagners immer wieder betonte Anforderung an seine Sänger zu kennen scheinen: nämlich wortverständlich zu singen und nicht zu schreien. In keiner seiner differenzierten Vortragsangaben schreibt Wagner das Wort schreien! Dass er stattdessen der Wortverständlichkeit größte Bedeutung abverlangte, weiß offenbar in dieser Produktion kaum mehr jemand. Am wenigsten die Brünnhilde der Luana de Vol, was aber auch dem Dirigenten anzulasten ist. Sie singt Brünnhildes Schlussgesang im roten, zweiteiligen Straßenkostüm, mit einem Papp-Steckenpferd in der Hand, vor dem geschlossenen Holzkasten Konwitschnys, bei eingeschaltetem Zuschauersaal-Licht, bis der Vorhang nach ihrem Lippenbekenntnis vom Sprung in die Flammen (der natürlich nicht zu sehen ist) fällt und die Finalmusik rein konzertant und kommentarlos dem Zuschauer überlassen wird.
Dieter David Scholz