Fladt, Hartmut

Der Musikversteher

Was wir fühlen, wenn wir hören

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Aufbau, Berlin 2012
erschienen in: das Orchester 01/2013 , Seite 62

Der Untertitel des ungewöhnlichen Buchs von Hartmut Fladt könnte auch lauten: „Was wir hören, wenn wir fühlen“. Denn den roten Faden bilden interessante Überlegungen zur musikalischen Satztechnik, die dem Wunsch entsprungen sind, die durch Musik ausgelösten Gefühle durch kognitiv strukturelles Verstehen zu begründen. Den Schwerpunkt des Buchs bilden Analysen von Beispielen, die vorwiegend aus der populären Musikkultur stammen und nicht selten mit solchen der „komplexeren“ Musik verglichen werden. Nebenbei sei bemerkt: Der Ausdruck „komplexere Musik“ zeigt, dass Fladt wie viele andere Autoren beim Aufzeigen von Übergängen mit der Begrifflichkeit von U und E zu kämpfen hat.
Das Buch ist für Liebhaber von Musik gedacht, auch solche ohne Notenkenntnis. Eingefügt ist eine kurze Einführung in die Allgemeine Musiklehre, die aber bezüglich der Intervalllehre eine recht hohe Kompetenz des Liebhabers voraussetzt. Diese Einführung ist erweitert um einige, speziell auf die populäre Musik bezogene Termini. Sie dient dem Verständnis der verwendeten Fachtermini. Einen prominenten Platz unter den analysierten Beispielen nehmen die Songs der Beatles ein. An ihnen zeigt Fladt das, wie er schreibt, „Erfolgsrezept von Popularmusik“ auf, nämlich „das Alte, Vertraute im Gewande des Neuen“ zu zeigen, so etwa eine Akkordfolge in A Day in the Life, wie sie sich in der berühmten Air für Orchester aus der D-Dur-Suite von Johann Sebastian Bach findet. Gesunkenes Kulturgut? Fladt belässt es weitgehend beim Staunen. Andere Ähnlichkeiten zeigen beim genauen Hinsehen große Unterschiede. Der aufsteigende Cluster ebenfalls in besagtem Song wird bei den Beatles lauter, worin sich Zusammenhänge der sogenannten Allgemeinqualitäten von Lautstärke und Höhe zeigen. In Ligetis Atmosphères hingegen wird ein solcher Cluster leiser – und damit ein eher seltenes Kunstmittel verwendet.
Mit Vergnügen kann man außerdem im ersten Teil des Buchs kurze Essays zum Orpheus-Mythos, zu Laien und Profis, Ohrwürmern etc. lesen. Bei einigen dieser Essays hätte man sich einen Anschluss an moderne Theorien gewünscht. So bezieht sich der Abschnitt „Kopf und Bauch“ nur auf die antike Temperamentslehre, nicht aber auf die neueren Gefühlstheorien. Nützlich wären an einigen Stellen auch belegende Hinweise. Hatte Johann Mattheson, zeitweilig der Sekretär des englischen Gesandten, die Charakterisierung der Melodie als „edle Einfalt“ im Vollkommenen Kapellmeister 1735 von den französischen Enzyklopädisten? Der erste Band der Encyclopédie erschien 1751. Darin wirkte noch der gescheiterte Versuch mit, ein englisches Lexikon ins Französische zu übersetzen.
Meine kleinlich-akademisch wirkenden Verbesserungswünsche schmälern nicht das Verdienst eines Buchs, das mit großer Professionalität der musikalischen Analyse Neuland gewinnt. Die Brücke, die hierbei zwischen verschiedenen Musikgenres geschlagen wird, dürfte im Übrigen auch für den sogenannten Klassikliebhaber eine spannende Lektüre sein.
Helga de la Motte-Haber