Nohr, Karin

Der Musiker und sein Instrument

Studien zu einer besonderen Form der Bezogenheit

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Psychosozial-Verlag, Gießen 2010
erschienen in: das Orchester 06/2010 , Seite 64

Vom Buchumschlag grüßt der Engel eines romanischen Kirchenportals, der zum Jüngsten Gericht und zur Auferstehung der Toten die Posaune bläst. Die Lektüre freilich kann auch den lebendigsten Menschen nicht wach, geschweige denn bei Laune halten.
Das Buch wurde vor 13 Jahren zum ersten Mal veröffentlicht und ist jetzt in einer Neuauflage erschienen. Ganz ohne Überarbeitungen oder Fortschreibungen in Sachen Forschungsstand, und man rätselt, warum es keine Erklärung dafür gibt, dass die zitierte Literatur durchgängig 15 bis 30 Jahre alt ist.
Eigentlich klingt das Thema vielversprechend. Die Autorin hätte vor seiner Bearbeitung aber kritisch prüfen müssen, ob sich daraus überhaupt eine sinnvolle Fragestellung für eine Studie schneidern lässt und ob sie selbst bereit ist, die dazu notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Zum Beispiel, indem sie unter kontrollierten Bedingungen Musiker nach ihrem Verhältnis zum eigenen Instrument befragt. Stattdessen versammelt sie – nach zufälliger Verfügbarkeit – Musikerautobiografien und sucht die Stellen, an denen Musiker etwas über ihr Verhältnis zum Instrument gesagt haben. Die jeweilige Aussage behandelt die Autorin dann wie ein factum brutum, also wie ein hartes Datum, das man nach Prozentanteilen berechnen oder in freier Weiterverwendung im psychoanalytischen Begriffsgehege deuten kann. Es gibt keine Kontrollgruppe, anhand derer sich prüfen ließe, ob die „Entdeckungen“ zufällig sind oder nicht. Vertreter der U-Musik sind nicht dabei, Aussagen von Laienmusikern ebenfalls nicht. Nohr behebt diesen Mangel aber nicht durch eigene Forschungen, sondern nimmt die Datenlage als Schicksal. Sie hat, freundlich gesagt, einen krummen Weg beschritten: Sie wählte 41 einschlägige Lebensbeschreibungen weltberühmter Instrumentalisten (aus nahe liegenden Gründen überwiegend Geiger und Pianisten) und bildete mit Blick auf ihr Thema ungeniert Mittelwerte und Anteile.
Warum hat sie die – oft nach Marktkalkül geschriebenen – Texte eigentlich nicht essayistisch behandelt oder charakterisiert? Das wäre vielleicht ganz interessant geworden. Stattdessen bietet sie vorgetäuschte Wissenschaftlichkeit. Die Tatsache, dass Musiker ihr Instrument als „Partner“, als „entgegenkommend“, als „Peiniger“ oder „Quelle höchsten Glücks“ beschreiben, ist ja nicht musikspezifisch. Jeder Handwerker dürfte gegenüber seinem vertrauten Gerät das Gefühl haben, dass es ein guter Freund oder Teil seines Körpers ist. Und von Computernutzern weiß man, dass sie ihren Apparaten zärtliche Namen geben, sie aber, wenn nötig, auch anschreien.
Für Künstler gilt eigenes. Nohr aber verwechselt alles mit allem; und vor allem das „Instrument“ mit der „Musik“. Es sind natürlich die Musik und das Musikspielen, die den im Alltag grauen Personen plötzlich Kraft und Ausstrahlung verleihen. Und dazu braucht es nun mal ein Instrument.
Meine Empfehlung: Gehen Sie von dem Geld, das dieses Buch kostet, lieber mit Ihrer Geige oder Ihrem Klavier nett essen.
Kirsten Lindenau