Barnes, Julian
Der Lärm der Zeit
Roman
Über das Leben von Dmitri Schostakowitsch wurden bereits einige Romane verfasst. Zuletzt reflektierte Sarah Quigley in Der Dirigent von 2012 die Entstehungsgeschichte der Sinfonie Nr. 7 Leningrad (Aufbau-Verlag Berlin). Der Titelheld ist Karl Eliasberg: Er dirigierte das Werk im Sommer 1942 inmitten des von den deutschen Nazis belagerten Leningrad, unter grauenvollen Bedingungen. In Der Lärm der Zeit interessiert sich nun Julian Barnes für die Haltung von Schostakowitsch.
Im Zentrum dieses Porträts stehen der Große Terror Stalins sowie die Stalinsche Kulturrevolution von 1936 bis 1938/39. Diese Kultursäuberung mit zahllosen Opfern begann am 28. Januar 1936 mit dem Hetzartikel Chaos statt Musik im Parteiorgan Prawda gegen den damals 29-jährigen Schostakowitsch und dessen Oper Lady Macbeth von Mzensk. In dieser Zeit habe es zwei Arten von Komponisten gegeben: Die einen waren am Leben und hatten Angst, die anderen waren tot.
Barnes porträtiert einen Menschen, der wie hunderte andere Nacht für Nacht auf seine Verhaftung wartete. Im repressiven Umfeld ringt diese Person um geistige Integrität. In virtuos eingerückten Aus- und Rückblicken wird überdies ein Charakter eingefangen, der bereits in frühen Jahren mit zugeknöpfter Steifheit eine Fassade aufbaute, hinter der sich ein schüchterner und ängstlicher Mensch verbarg; einer, der gleichzeitig schon früh an vorderster Front mitmischen wollte.
Der Roman macht auch deutlich, dass bei Schostakowitsch nicht nur die Angst eine treibende Kraft war, sondern ebenso der Ehrgeiz. Das innere Exil wäre für ihn nie infrage gekommen. Es folgte ein gesundheitlich zerstörerischer Dauerzustand zwischen Kompromiss und Konflikt, musikalisch und persönlich. Mit propagandistischen Machwerken schuf sich Schostakowitsch künstlerische Freiräume. Andererseits setzte er sich für verfolgte Kollegen ein, um gleichzeitig zuzulassen, dass in seinem Namen Igor Strawinsky oder Alexander Solschenizyn offiziell angeprangert wurden.
Neu ist das alles nicht. Barnes stützt sich auf bestens bekannte Quellen, allen voran die von Solomon Volkov aufgezeichneten und Ende der 1970er Jahre im westlichen Exil veröffentlichten Memoiren. Um diese Zeugenaussagen wird bis heute in der Schostakowitsch-Forschung kontrovers gestritten. Als Literat geht Barnes wohltuend nüchtern an das Buch heran: Nicht die Echtheit ist für ihn entscheidend, sondern die grundsätzliche Glaubwürdigkeit zentraler Passagen, ganz im Sinn der komparatistischen Memoirenforschung.
Eine Persönlichkeitsstudie kommt heraus, die sich auf knappem Raum so spannend liest wie ein Psychokrimi überdies hoch-
aktuell. Ob die Anfeindungen gegen den Orbán-kritischen Pianisten András Schiff in Ungarn, die Prozesse gegen Fazil Say in der Türkei oder der neuerlich raue Wind in Putins Russland: Das Verhältnis zwischen Kunst und Macht bleibt angespannt. Barnes Roman ist auch eine Mahnung.
Marco Frei