Csampai, Attila / Dietmar Holland (Hg.)
Der Konzertführer
Orchestermusik von 1700 bis zur Gegenwart
Wozu noch einen Konzertführer, fragen die Herausgeber Attila Csampai und Dietmar Holland im Vorwort zu ihrem erweiterten und überarbeiteten Konzertführer, der seit seiner ersten Ausgabe im Jahr 1987 als Standardwerk gilt. Die Antwort darauf bleibt die aktualisierte dritte Ausgabe dieses Lesebuchs zur Orchestermusik von 1700 bis zur Gegenwart, an der 32 Autorinnen und Autoren, darunter nicht wenige aus dem Umkreis des Bayerischen Rundfunks mitkomponiert haben, nicht schuldig.
Die Intention dieser renommierten Musikkenner, wie z. B. Klaus Peter Richter, Ulrich Schreiber oder Michael Stegemann, ist gewesen darauf wird ausdrücklich hingewiesen , mit Herzblut einen Konzertverführer zu schreiben, dabei den persönlichen Gusto nicht zu verhehlen. Das macht das Lesen vergnüglich und unterhaltsam, hält allerdings nicht dem Anspruch stand, einen bis heute verbindlichen Werkkanon vorzulegen.
So haben Abhandlungen über den Gattungsbegriff Sinfonia und die überaus erhellende Reflexion über das Schaffen Joseph Haydns mit über 70 Seiten durchaus ihre Berechtigung und sind als Desiderat anzusehen. Man fragt sich allerdings, warum in dem bewusst spiralförmig und nicht chronologisch konzipierten Lexikon Georg Friedrich Händel gerade mal vier Seiten zugestanden, dabei seine nach 1700 entstandenen Chorwerke im Gegensatz zu denen Haydns oder Mozarts gänzlich unterschlagen wurden. Stattdessen geht man sehr ausführlich auf die Berliner Schule ein, Komponisten, von denen man allgemein als Kleinmeister spricht. Hermann Götz und Rudolf Friedrich Delius sind eigene Kapitel gewidmet, Carl August Nielsen gar sieben Seiten, ganz nach dem Motto: Musikwissenschaftler stellen ihre Lieblingskomponisten vor.
Wenig Distanz beweist einer der Autoren, wenn er den unbestritten verdienstvollen Komponisten Christobal Halffter als einen der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit vorstellt, der in faszinierender Weise komponiere. Und ob der durchschnittliche Konzertgänger, an den sich dieses Buch ja richtet, wohl weiß, was gemeint ist mit dem zum Solipsismus übersteigerten Individualismus Alexander Skrjabins?
Sehr erhellend ist hingegen ein ausführlicher Artikel zu Komponisten der ehemaligen Sowjetunion. Erfreulicherweise erfährt man auch sehr viel über Nono, Xenakis und Ligeti. Wer sich allerdings vor dem Konzertbesuch auf Werke der heutigen jungen Komponistengeneration, von der hoffentlich noch viel zu erwarten sein wird, informieren will, wird allein gelassen. Über äußerst produktive Komponisten wie Matthias Pintscher (für sein Alter sehr reif), Isabel Mundry (Zenderschülerin), Moritz Eggert (eigenwilliger Querdenker), ja, selbst über Wolfgang Rihm und Manfred Trojahn ist gerade das Allernötigste zu erfahren. Und ob Frauen nun anders komponieren als Männer oder nicht: Es gibt nicht nur Sofia Gubaidulina, die die Programme im deutschsprachigen Raum mit ihrer Musik bereichert. Wo bleiben Kaija Saariaho, Olga Neuwirth, Adriana Hölszky, Violeta Dinescu?
Trotz aller Kenntnis und Begeisterung der Autoren für die Schlachtpferde der Konzert-Literatur von Vivaldi über Bruch bis zu Wieniawski, die inhaltliche Stringenz bleibt nebulös (wie im Lexikon an anderer Stelle zu lesen ist). Wer die Sinfonie mit dem Paukenschlag sucht oder die Leningrader Sinfonie muss halt blättern. Da hätte ein wenig mehr Platz fürs Personen-Register schon sehr geholfen.
Dagmar Zurek