Konsistorum, Natascha

Der Komponist Nikolaj Medtner

Ein Porträt, mit 2 CDs

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Henschel, Berlin 2004
erschienen in: das Orchester 03/2005 , Seite 71

Das Buch der aus Russland stammenden Pianistin Natascha Konsistorum, ins Deutsche übersetzt von Christoph Flamm und mit einem Grußwort versehen von Elisabeth Legge-Schwarzkopf, ist ein Versuch, das breite Publikum im Westen mit dem Werk von Nikolaj Karlowitsch Medtner vertraut zu machen. In vier Kapiteln werden der Weg der Autorin zu Medtner sowie das Leben des Komponisten, sein Wesen, seine künstlerischen Neigungen, Vorlieben und Ablehnungen beschrieben sowie etliche Schlüsse zur Ästhetik und Form seiner Werke gezogen. Das Leben des Komponisten war nicht reich an äußeren Erscheinungen; umso wichtiger war es, ein psychologisches Porträt Medtners zu schaffen.
Medtners Bild wird jedoch stark idealisiert. Besonders anfechtbar ist das Bild der idyllischen brüderlichen Liebe zwischen Nikolaj und Emil Medtner, das als Leitfaden das Buch durchzieht. Auch die Charakterisierung dieses Bruders ist mit Vorsicht zu genießen. Emil Medtners Persönlichkeit war äußerst komplex und seine Wirkung auf die Zeitgenossen extrem tragisch. Er war eine der Hauptfiguren der russischen symbolistischen Bewegung, predigte extrem nationalistische und rassistische Überzeugungen: Zum Skandal wurde sein Buch Der Modernismus und die Musik (Moskau 1912), in dem Emil die Überlegenheit der „arischen Kultur“ proklamierte und tiefsten Antisemitismus äußerte.
Emil, der sich als Mentor und Impressario seines Bruders Nikolaj verstand, beeinflusste dessen wichtigste Ideen; die Äußerungen Nikolajs zu Fragen der „germanischen Kunst“, des „Modernismus“, der ewige Kunstgesetze zerstöre usw., folgten den ästhetischen Einstellungen Emils. Zwar äußerte sich Nikolaj öffentlich – etwa im Buch Muse und Mode – nicht zu Rassenfragen, es gibt jedoch genug Zeugnisse dafür, dass er und seine Schwägerin und spätere Ehefrau diese Ansichten Emils teilten. Nicht nur Emil befürwortete Hitler, Goebbels und die Verfolgung jüdischer Künstler wie Bruno Walter, die er als „degenerativ“ und dem germanischen Geist „fremd“ betrachtete, sogar seine frühere Ehefrau Anna, eine konvertierte Jüdin, bezeichnete alle, die dem Faschismus widerstanden, als „schwachsinnig“.
Nikolaj Medtner beschrieb 1933 seine Begeisterung für das „heldenhafte Risoluto, das ein Streben nach einer ,Regeneration‘ erfüllt“, und begann nach der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 seine antimodernistischen Notizen als Buch zusammenzufassen. Mit großer Freude erhielt er die Nachricht, dass „dem ungestümen Werbungsmacher“ Arnold Schönberg seine Stellung in Berlin genommen worden war. Sehr verheerend war der Einfluss Emil Medtners auf andere Zeitgenossen wie z.B. auf Andrej Belyj, der sich ebenfalls antisemitisch äußerte und nach einer Krise zum Feind Emils wurde. Zu Emil Medtners „Verdiensten“ zählten auch die Depressionen bei Sergej Rachmaninow sowie die psychosomatischen Störungen der im Buch von Natascha Konsistorum zitierten Publizistin Marietta Schaginjan (die Tätigkeit dieser kuriosen Person, die sich später zur kriegerischen Stalinistin bekannte, darf auch nicht unkritisch betrachtet werden).
Keineswegs als eine Idylle erwies sich auch die gespaltene Beziehung zwischen Anna Michajlowna und den beiden Brüdern Medtner, deren „Ehefrau“ sie war. Ganz verschwiegen im Buch werden mehrere krankhafte, gar pathologische Umstände, vor allem die „Ehe zu dritt“, die extrem zwielichtige Beziehung Emils zu Anna, die er als Jüdin für „inakzeptabel“ hielt usw. All diese Tatsachen, dargestellt in dem Buch von Magnus Ljunggren über Emil Medtner, sollte kein Medtner-Forscher ignorieren.
Trotz aller Idealisierung und etlicher Irrtümer trägt das Buch von Natascha Konsistorum, ergänzt mit einer wertvollen Dokumentensammlung sowie zwei CDs mit Aufnahmen etlicher Werke Medtners, dazu bei, das Schaffen des Komponisten bekannter zu machen.
Marina Lobanova