Storch, Christian

Der Komponist als Autor

Alfred Schnittkes Klavierkonzerte

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau, Köln 2011
erschienen in: das Orchester 12/2011 , Seite 71

Alfred Schnittke, geboren 1934 in der Sowjetunion, gestorben 1998 in Hamburg, schrieb Opern, Kammermusik, Ballette, Chorwerke, Sinfonien, Filmmusik – und große Stücke für Klavier und Orchester. Genau diesem Bereich widmet sich Christian Storch, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Göttingen, in seiner Dissertationsschrift, die jetzt im Böhlau-Verlag als Band 8 der Schriftenreihe der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar erschien. Eines vorweg: Storch hat sich höchst intensiv in die „Kompositionswerkstatt“ Schnittkes mit dem Schwerpunkt auf dessen Konzerte für Klavier/Orchester eingelesen und -gearbeitet. Das im akademischen Klima gefasste Buch gewinnt an Farbe, wenn der Autor sich in die Musikbereiche mit soziologischen oder philosophischen Akzenten vorwagt. Gerade Schnittke, dessen Gesamtopus vorbildlich der Aufbereitung unter lebensnaher Autorenschaft dient, liefert jede Menge biografische, politische und literarische Akzente. Diese Wechselbeziehung macht Storchs umfangreiche Analysen und Kommentare spannend und wertvoll.
Schnittke galt als Polystilist, als einer, der mit der europäischen Musikrezeption ebenso vertraut war wie mit neuen Techniken und sogar Experimenten – und fand doch zu einem eigenen, originären „Ton“. Dazu zäh­len seine fünf Klavierkonzerte, geschrieben von 1953 (das frühe Poeme gilt als verschollen) bis 1988. Storch leitet einen Diskurs über das „Wesen“, die „Sprache“ und die Vielschichtigkeit der Schnittke-Konzerte ein, immer
bemüht (und durchaus einleuchtend belegend), sie in das zuletzt von drei Schlaganfällen gezeichnete Leben einzubinden: der Komponist als Autor, der vor sich und dem Publikum Zeugnis ablegt von seinen zeitgemäßen Klang- und Themenreisen. Zunächst analysiert Storch die Notentexte der vier veröffentlichten Klavierwerke: das Konzert für Klavier und Orchester (1960), die Musik für Klavier und Kammerorchester (1964), das Konzert für Klavier und Streicher (1979) und schließlich das Konzert (vierhändig) mit Kammerorchester (1988). Er leuchtet hinein in Aufbau, Dramaturgie, Prozess, Grafik, Satztechnik, Rhythmik, Farben usw. – das gesamte kompositorische Spektrum wird offengelegt und überprüft.
Der noch spannendere Teil gilt dem „Autor“ Schnittke. Weil hier auch einmal spekulativ nachgedacht werden darf über das Verhältnis von Musik und Literatur als Lebensdeutung. Weil der Interpret als „Co-Autor“ gesehen werden muss. Weil auf Grenzen der Interpretation hingewiesen wird. Weil die „Eigeninszenierung des Autors/des Komponisten“ hinterfragt wird. Weil dieser Autor auch nur als künstlerisches „Konstrukt“ definiert wird.
Storch bringt (Auf- und Er-)Klärung, Verständnis, Nähe und kritische musikwissenschaftliche Kompetenz unter ein Dach. Hat sich Schnittke gerade in den Klavierstücken und als Interpret strategisch „selbst inszeniert“, hat er dadurch politisch und grenzüberschreitend gewirkt? Das Buch wirft viele Fragen auf. Einige wichtige hat der Musikwissenschaftler und Exeget schlüssig beantwortet. Schnittke wird dadurch, wie ich meine, als „unser Zeitgenosse“ vermenschlicht – trotz aller philosophischen oder soziologischen, also übergeordneten „Weisheiten“.
Jörg Loskill