Brass, Nikolaus

Der goldene Steig

Eine Erzählung für Sopran und Orchester auf einen Text von Peter Kurzeck, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Ricordi, Berlin 2016
erschienen in: das Orchester 05/2017 , Seite 65

„Damals, sagt mein Vater jetzt in meine Gedanken hinein und gleich sehe ich ihn vor mir … Und wie ich nach Pilsen gekommen bin, da war es schon spät im Sommer. Dann von Pilsen nach Klattau. Der Böhmerwald. … Und dann hab ich gemerkt, es ist schon August. Daß ich auch meinen Geburtstag vergessen konnte. Daß die Zeit auch so schnell vergeht! Man weiß es und kann es doch nicht begreifen, sagt er und sieht mich eindringlich an. Gut, daß ich den Strohhut hatte, sagt mein Vater und wird wieder durchsichtig. Erst durchsichtig, dann unsichtbar. Aber noch nicht ganz. Beinahe, als ob er auf Antwort wartet. Oder falls ihm noch etwas wichtiges einfällt […] Dort ist eine klare Luft, wie fast nirgends.“
Es ist wohl dieses geheimnisvolle Neben- und Miteinander von Vater und Erzähler in Peter Kurzecks 4. Teil (Oktober und wer wir selbst sind) des Romanzyklus Das alte Jahrhundert, was Nikolaus Brass zum Komponieren gereizt hat. Der goldene Steig, jener alte Handelsweg von West nach Ost, wird also nun zum Schmelztiegel der beiden Ichs. Im Mittelpunkt steht das Sop-
ran-Solo als Träger des Vater-Ich-Dialogs, reflektiert die Solistin die Reise des imaginären Vaters auf der Suche nach Lohn und Brot ins unbekannte Land des Ostens, in die Sehnsuchtsgegend schlechthin, vielleicht sogar bis in die klare Luft des Todes?
Aber die Zeit der Programmmusik liegt längst hinter uns. Kurzecks impressionistisch anmutender Text ist nur ein Stimmungs-
gemälde für Brass’ Klangfantasien; und die sind sehr geräuschhaft: „Nur Wischgeräusche“, „(fast) nur Luft“ oder „tonlos“ findet man zuhauf in der Partitur. Neben dem reichhaltigen vierfach besetzten Schlagwerk trägt auch noch das gesamte Orchester mit akribisch vorgeschriebenen Klopf- und Klapperanweisungen zur Geräuschentwicklung bei.
Der Sopran hat es da schwer, noch klar verständlich vernehmbar zu bleiben. Ein Problem, dem sich wohl auch Brass bewusst war: „Evtl. Mikrofonverstärkung für die Sprech­stimme der Sängerin“, steht zu Beginn der Partitur; aber das zieht nicht nur aufführungspraktische Probleme nach sich, auch bricht die einseitige elektronische Hilfe das Intime der Komposition auf, das fragile Gleichgewicht der Erzählung beginnt zu kippen.
Doch gerade das Miteinander von erzählender Solistin und gestaltendem Orchester ist im Auftragswerk des Bayerischen Rundfunks für die Musica Viva 2016 der Schwachpunkt. Zwar zeichnet Brass ein fragiles Stimmungsbild, in dem vierteltönige Erhöhungen und dreivierteltönige Erniedrigungen exakt vorgeschrieben werden, in dem centgenaue Tongebung verlangt wird, doch Solo und Orchesterpart finden nicht so richtig zusammen. Die verzweifelte Suche des Vaters und die Reflexion beim Erzähler, die den Text über alle Brüche hinweg zusammenhält – in der Musik sucht man ihn vergebens. Die „Musikalische Erzählung“ stolpert eher ziellos und weit entfernt von der „klaren Luft“ vor sich hin. Überzeugt hat mich das nicht!
Markus Roschinski