Kranz, Dieter
Der Gegenwart auf der Spur. Harry Kupfer
Der Opernregisseur
Ich halte ihn für den wichtigsten Regisseur der Musikszene: Gerd Albrechts Statement über Harry Kupfer scheint seine Bestätigung in Ulrich Schreibers jüngstem Band des Opernführers für Fortgeschrittene zu finden, in dessen Register Kupfer weit häufiger auftaucht als etwa Hans Neuenfels, Joachim Herz, Ruth Berghaus, Peter Konwitschny, Jossi Wieler, Peter Mussbach oder wie sie alle heißen. Das hängt offensichtlich mit der genuinen Musikalität seiner Inszenierungen zusammen und zum anderen mit der enormen stilistischen Bandbreite
seiner Arbeiten zwischen Hän-del-Gluck auf der einen und Reimann-Zimmermann (beide, Bernd Alois und Udo) auf der anderen Seite.
Schon einmal hat sich Dieter Kranz mit Kupfer befasst: 1988 in seinem Buch Harry Kupfer Ich muss Oper machen. Jetzt hat er ihn erneut ins Visier genommen und seine Perspektive bis zur Dresdner Mahagonny-Produktion von 2005 erweitert. Der große Vorzug seiner Auseinandersetzung mit den inzwischen über 200 Inszenierungen Kupfers ist die Vielfalt seiner Annäherungen: als Beschreibung, Analyse, in Gesprächen mit Kupfer, den Dirigenten, Bühnenbildern und Sängern, mit denen er zusammengearbeitet hat, und auch mit den kontroversen Kritiken, die über ihn erschienen sind. Denn bei aller Sympathie und Empathie für das kupfersche uvre über fast fünfzig Jahre hinweg (begonnen mit seiner ersten Rusalka in Halle 1958): Zu den Jubel-Kupferianern gehört Kranz, der sich durchaus seine eigenen Gedanken über die Ergebnisse gemacht hat, nicht. Die Präsentation in einer so vitalen Form, so anschaulich und prägnant, verrät den versierten Rundfunkjournalisten.
Die Schwerpunkte seiner Bilanz finden sich in den Kapiteln über Händel und Gluck, über Mozart, Wagner und Janác¡ek. Daneben gibt es zahlreiche Seitenblicke: Verdi und Puccini, Berlioz, Offenbach und Bizet, die Russen von Tschaikowsky über Mussorgsky bis Schostakowitsch, Werke der Übergangszeit (Strauss, Berg und Schönberg), auch ein Heiteres Zwischenspiel (Strauß, Lehár und das Musical Elisabeth) und schließlich Der Gegenwart auf der Spur (30 Seiten über Aribert Reimann, Penderecki, Matthus und Goldschmidt).
Es ist ein stattliches Resümee, das da in einem halben Jahrhundert zusammengekommen ist und bis zu Kupfers Abschied als Chefregisseur der Komischen Oper in Berlin reicht (inklusive seiner weiter praktizierten Tätigkeit als freier Regisseur unter anderem in Barcelona, Sydney und Helsinki). Es wird ergänzt durch biografische Daten, Kurzbiografien der Interview-Partner von Claudio Abbado bis Wolfgang Wagner und einem chronologischen Inszenierungsverzeichnis.
Man wird Kranz beipflichten, wenn er Kupfer, der sich (wie auch sein Kollege Joachim Herz) ausdrücklich nicht als Schüler von Felsenstein sieht, gleichwohl als Erben des Gründers der Komischen Oper reklamiert, der dessen Anliegen zeitgemäß weitergeführt [hat], ganz in Felsensteins Sinne, dessen oberster Grundsatz lautete: ,Theater ist immer heute.
Horst Koegler