Hattinger, Wolfgang

Der Dirigent

Mythos – Macht – Merkwürdigkeiten

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2013
erschienen in: das Orchester 02/2014 , Seite 65

Einen der wohl schillerndsten und geheimnisumwittertsten Berufe nimmt sich Wolfgang Hattinger in seinem Buch Der Dirigent vor. Und die Alliteration des Untertitels Mythos – Macht – Merkwürdigkeiten suggeriert zunächst eine gewisse Einseitigkeit, die sich jedoch, je weiter man im Buch vordringt, als eine durchaus seriöse, akribische und durch zahlreiche Quellen belegte Gesamtdarstellung eines in der Tat singulären und durchaus schwierigen Berufsbildes entpuppt. Große Teile seiner Ausführungen widmet Hattinger dabei dem speziellen Konfliktfeld „Dirigent/Orchestermusiker“, ein Verhältnis, welches auch gruppendynamisch-psychologisch durchleuchtet wird. Sein Credo gipfelt dabei in einem Kernsatz der 2004 veröffentlichten Studie von Sabine Paternoga, nämlich einer Erkenntnis, die ganz schlicht daherkommt und doch so viel Zündstoff bietet: „Ein Dirigent gewinnt das Orchester am schnellsten dadurch, dass er bestens vorbereitet, ökonomisch und zielführend probt und durch gelungene Konzerte zum Hochgefühl der Musiker beiträgt.“
Hattinger gliedert seine Untersuchungen in fünf Kapitel. Einer lesenswerten Darstellung zur Interpretation und zur Geschichte des Dirigierens mit den Begründern eines eigenen Berufsstandes (Bülow, Furtwängler, Toscanini, Karajan) folgen vier Segmente, die sich mit dem Beziehungsgeflecht des Dirigenten zum Orchester, zur Machtfülle, zu Mythos und Geld sowie zu den Medien auseinandersetzen.
Im Kapitel „Dirigent und Macht“ finden sich die wohl weitreichendsten Ausflüge in vermeintlich musikferne Gebiete wie Psychologie, Soziologie oder Philosophie. Und dennoch (oder gerade deshalb?) verfolgt man die Ausführungen Hattingers mit einer Mischung aus Hochspannung und Erleichterung, denn für viele heutige Dirigenten gilt gottlob sinngemäß die Aussage eines Wiener Philharmonikers: „Claudio Abbado ist ein Mensch, der kann die Wiener Philharmoniker gewaltlos zu ihrem Glück zwingen.“ Mit besonderer Aufmerksamkeit zwingt einen der Autor, die erkenntnisreichen Aufhellungen zum Thema „Dirigent und Mythos“ zu lesen. Und oft genug muss man gar schmunzeln: über Carlos Kleibers seltsame Verweigerungshaltung, über den ferngesteuerten Hype zu Gustavo Dudamels Berufung nach Los Angeles, über Leonard Bernsteins narzisstische Sucht nach Liebe oder über Celibidaches Minderwertigkeitskomplexe gegenüber Karajan.
Hattingers großartiges Buch schildert die Hintergründe und Abgründe eines wahrlich mythisch-merkwürdigen Berufsbildes. Daher werden es die betroffenen Orchesterdirigenten wohl eher nicht lesen. Empfohlen werden kann es dagegen dem musikinteressierten Laien, selbst zum Preis einer sich schnell einstellenden Desillusionierung. Vielleicht lernen die Musikenthusiasten indes, was Hattinger mehrfach moniert: die Rückeroberung der primären Wertschätzung von Komponist und Werk. Mit besonderem Nachdruck jedoch sei das Buch den Mitgliedern unserer Berufsorchester ans Herz gelegt: Sie werden es mit einer Mischung aus erkennendem Lächeln und bittersüßen Berufserfahrungen verschlingen.
Thomas Krämer