Rossini, Gioacchino

Der Barbier von Sevilla

Sinfonia (Ouverture), Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2009
erschienen in: das Orchester 09/2010 , Seite 65

Die Neuausgabe eines der berühmtesten Werke Rossinis hat den Herausgebern Philip Gossett und Patricia B. Brauner eine schwierige Aufgabe beschert. Wie das sorgfältige und überaus detaillierte Vorwort dokumentiert, ist die Quellenlage dieser Komposition äußerst kompliziert, was nur zum Teil mit der damals gängigen Theaterpraxis zusammenhängt, bereits existierende Ouvertüren zu anderen Opern einer neuen Opernkomposition voranzustellen. Vielmehr liegt es wohl daran, dass das originale Autograf der Erstfassung als Ouvertüre zu der Oper Aureliano verschollen ist und die späteren Quellen im Bereich der Orchesterbesetzung deutlich voneinander abweichen.
Die Ausgabe versucht daher, die verschiedenen Aufführungsvarianten darzustellen, da nicht eindeutig zu klären ist, welches Instrumentarium wohl in der damaligen Praxis verwendet wurde und die Orchesterbesetzung des Barbiere selbst zur Aufklärung auch nichts beiträgt. So bleibt unklar, ob eine oder zwei Flöten besetzt sind, ebenso eine oder zwei Oboen. Als die Ouvertüre noch dem Aureliano voranstand, sollen nur zwei Musiker sowohl Flöte als auch Oboe gespielt haben – in der heutigen Orchesterpraxis, selbst der historischen, eine völlig undenkbare Situation. Auch die Paukenstimme existiert nicht in allen Quellen, was womöglich am Notenpapier lag, das nur zwölf Systeme hatte und auf dem zu wenig Platz war.
Moderne Orchester orientieren sich an der im späten 18. Jahrhundert ausgebildeten Standardbesetzung: doppeltes Holz, doppeltes Blech, Pauken und gegebenenfalls – vor allem in der Oper dieser Zeit zu finden – Perkussionsinstrumente wie kleine oder große Trommel sowie Streicher. Wahrscheinlich wird man diesen Standard beibehalten, Flöten und Oboen also doppelt besetzen. Dies geschieht nicht aus Trägheit und Gewohnheit, sondern hat auch aufführungspraktische Gründe: Zum einen sind die Spieler verfügbar, zum anderen sind die in der Ouvertüre häufig zu findenden kompakten Holzbläsersätze klanglich ausgewogener. Die Soli sind sowieso unabhängig von der Frage, ob Flöte und Oboe solistisch oder doppelt besetzt sind.
Es ist hinlänglich bekannt, dass Rossini die Orchestration Mozarts bewunderte, studierte und sich schulmäßig aneignete. Mozart verwendet allerdings nur in seinen Opern, speziell den Ouvertüren generell doppelte Holzbläserbesetzung, in anderen Werken mit Orchester setzt er Oboen immer paarweise ein, die Flöte hingegen besetzt er oft einzeln. So sind auch ästhetische Gründe als Argument, welche Fassung dem Klangbild Rossinis mehr entspricht, nur teilweise hilfreich. Möglicherweise könnte nur ein Vergleich verschiedener Ouvertüren Rossinis Erhellendes erbringen. Das Erscheinungsbild der vorliegenden Partitur mit den in Kleindruck hinzugefügten Alternativstimmen (zwei Flöten bzw. zwei Oboen, Pauken) könnte für den Dirigenten aufführungspraktisch tendenziell eher problematisch, wenn nicht sogar störend sein.
Es wird die Zukunft zeigen, ob und inwieweit sich die akribische Arbeit und kritische Auseinandersetzung der Editoren, die ich hier ausdrücklich nochmals würdigen möchte, mit einem scheinbar so eindeutigen Werk wie der Ouvertüre zum Barbier von Sevilla in der Musizierpraxis bewährt und aufführungstechnische Auswirkungen zeitigt.
Kay Westermann