Jabusch, Hans-Christian / Eckart Altenmüller
Denken statt spielen
Mentale Übetechniken für Musiker
Die Ausübung von Musik auf professionellem Niveau erfordert die zeitkritische Verarbeitung der beteiligten Sinnesmodalitäten im Millisekundenbereich sowie ein Höchstmaß an räumlicher und zeitlicher feinmotorischer Präzision. Mit beidem bewegt sich der Mensch an den Grenzen seiner physiologischen Möglichkeiten. Infolgedessen stellen beim instrumentalen Musizieren sowohl der Übevorgang als auch die Wiedergabe einstudierter Werke in der Aufführungssituation, die zudem häufig mit situativem Stress einhergeht, eine äußerst komplexe mentale Leistung dar. Beim Instrumentalüben können daher als Ergänzung zum physischen Üben mentale Techniken eingesetzt werden mit dem Ziel, die zentralnervöse Repräsentation der einzustudierenden Musik sowie die für die Wiedergabe erforderlichen Bewegungsprogramme zu stabilisieren. Überdies werden mit dem mentalen Üben folgende Ziele angestrebt: den Übeprozess effizienter und zielgerichteter zu gestalten; das musikalische Verständnis für die einzustudierende Musik zu verbessern; die Wahrnehmung in den verschiedenen Sinnesmodalitäten zu verfeinern und die Klangvorstellung zu verbessern; technische Schwierigkeiten zu überwinden; die Spielsicherheit in der Auftrittssituation zu erhöhen und Auftrittsangst zu reduzieren; Überlastungsverletzungen zu vermeiden.
Namhafte Musiker berichteten von ihren positiven Erfahrungen mit mentalem Üben. So erarbeitete Arthur Rubinstein die Variations symphoniques von César Franck mental während einer langen Busfahrt und spielte sie unmittelbar anschließend mit Orchester aus dem Gedächtnis. Obgleich auch Instrumentalpädagogen die Einbeziehung mentaler Techniken in den Übeprozess propagieren, (1) hat diese Form des Übens unter Musikern bislang keine weite Verbreitung gefunden. Lediglich 23 Prozent einer Stichprobe von 123 Musikern mit spielbedingten Schmerzsyndromen gaben an, gelegentlich oder häufig mental zu üben.
Mentales Üben
Mit mentalem Üben bezeichnet man im engeren Sinn das Üben einzustudierender Musik im Geist ohne ihre praktische Ausführung. Darüber hinaus zählen auch das observative Üben und die Imitation zu den mentalen Techniken, ebenso die mentale Vorbereitung der Auftrittssituation und autosuggestive Verfahren zur Reduzierung der Auftrittsangst.
Die Erforschung der dem mentalen Üben zugrunde liegenden neurophysiologischen Mechanismen reicht zurück bis in die frühen 1980er Jahre. Als Orte für die Erstellung und Speicherung komplexer Fingerbewegungen, wie sie für das Instrumentalspiel erforderlich sind, konnten in der Großhirnrinde die so genannten sekundären motorischen Areale identifiziert werden. Bahnbrechend war der Nachweis, dass in den Nervenzellverbänden dieser Areale bereits durch die reine Vorstellung solcher komplexer Fingerbewegungen eine Aktivierung stattfand, so wie sie auch beim physischen Üben dieser Bewegungen beobachtet wurde.
Neben den sensomotorischen Arealen sind an der zentralnervösen Planung, Steuerung und Verarbeitung des Instrumentalspiels eine Vielzahl weiterer Hirnareale beteiligt, deren gemeinsame, netzwerkartige Aktivierung beim imaginierten Instrumentalspiel in den jüngsten Jahren nachgewiesen werden konnte. Die Vernetzung verschiedener kortikaler Zentren bei Musikern wurde mit bildgebenden Verfahren eindrucksvoll am Beispiel der audio-motorischen Koaktivierung gezeigt: Beim Hören von Tonfolgen zeigte sich bei Pianisten neben der zu erwartenden Aktivierung in der Hörrinde eine zusätzliche Aktivierung im sensomotorischen Kortex, obwohl keine Bewegung stattfand. Umgekehrt wurden beim Spiel auf der stummen Klaviatur nicht nur die sensomotorischen Areale, sondern auch der Hörkortex aktiviert. Bei Nichtmusikern war diese audio-motorische Koaktivierung nicht zu beobachten.
Die Vernetzung der verschiedenen Modalitäten auf zentralnervöser Ebene beim Musizieren verdeutlicht die Notwendigkeit, auch beim mentalen Üben alle beteiligten Sinnesmodalitäten einzuschließen. Nicht nur die Vorstellung des eigenen Musizierens, auch das Beobachten der Bewegungen anderer Instrumentalisten beim Spielen führt bei Musikern zur Aktivierung der sensomotorischen Areale. Die dabei aktivierten Nervenzellverbände werden auch als das System der Spiegelneurone bezeichnet. Interessant ist, dass auch die reine Beobachtung der Bewegungen eines Musikers an einem stummen Instrument ohne jeglichen Höreindruck die auditorischen Areale eines beobachtenden Musikers zu aktivieren vermag.
Praktische Durchführung
Basierend auf den neurophysiologischen Hintergründen sollen nachfolgend Hinweise für die praktische Durchführung des mentalen Instrumentalübens gegeben werden. Idealerweise geht eine formale und harmonische Analyse des einzustudierenden Werks voraus. Das Erkennen formaler (z.B. Fugenaufbau, Sonatensatzform, Rondo) und harmonischer Strukturen (z.B. Kadenzen, Modulationen) dient nicht nur dem besseren Verständnis der Musik, sondern ermöglicht es zudem, eine Vielzahl einzelner Informationen (z.B. einzelner Noten) zu größeren Informationseinheiten zu verknüpfen, die anschließend leichter memoriert werden können. Eine Untersuchung an unterschiedlich fortgeschrittenen Pianisten zeigte, dass Anfänger dazu neigten, die Musik als amorphes Ganzes zu betrachten und beim Auswendiglernen einzelne Noten aneinanderzureihen, während erfahrene Pianisten vor dem Auswendiglernen eine Analyse vornahmen und bedeutungsvolle Segmente zusammenfassten.
Im Rahmen der vorbereitenden Analyse werden weiterhin die Fingersätze geklärt, bei Streichern die Bogenstriche, ferner Details zur Dynamik, Phrasierung und Artikulation. Schließlich wird das Werk in überschaubare Übungsabschnitte unterteilt, deren Länge von der Komplexität des Werks und von der Erfahrung des Musikers mit dem mentalen Üben abhängt.
Für den Vorgang des mentalen Übens sollte man ausgeruht und entspannt sein, der Einsatz einer Entspannungstechnik (z.B. autogenes Training, Atemtechniken, progressive Muskelentspannung) kann vorbereitend hilfreich sein. Das eigentliche mentale Üben beginnt mit dem ersten Übungsabschnitt und umfasst folgende Schritte:
> Memorieren des Notentextes des ersten Übungsabschnitts unter Zuhilfenahme der zuvor analysierten Strukturelemente, des Fingersatzes etc.
> Vorstellen des ersten Übungsabschnitts, z.B. Note für Note oder Akkord für Akkord, dabei: gedankliches Erfühlen der taktilen Wahrnehmung am jeweiligen Instrument (Tasten, Klappen, Saiten, Bogen etc.)
> inneres Vorstellen der Bewegungen (Finger, Arm, Bogen), gegebenenfalls des Atems und der Luftführung
> inneres Hören des klanglichen Ergebnisses
> gegebenenfalls Einbringen gedanklicher Bilder mit außermusikalischen Bezügen.
Vorteilhaft ist bei diesen Vorgängen die multimodale Vorstellung unter Einbeziehung aller beteiligten Sinne, sodass das gesamte oben dargestellte zentralnervöse Netzwerk in den Übeprozess involviert wird. Sobald die mentale Vorstellung des ersten Übungsabschnitts vollständig gelingt, kann dieser am Instrument ausgeführt werden. Eine Abwechslung des mentalen Übens mit physischem Üben hat sich als besonders effektiv herausgestellt. Falls bei der Ausführung Fehler auftreten, erfolgt zunächst eine Analyse der Fehler und der Korrekturmöglichkeiten, bevor der erste Übungsabschnitt erneut mental durchlaufen wird. Sobald für diesen bei der Ausführung ein zufriedenstellendes Ergebnis erzielt wird, werden die folgenden Übungsabschnitte fokussiert. Nach und nach werden anschließend die Übungsabschnitte zusammengesetzt.
Diese Form des mentalen Übens setzt eine gewisse Erfahrung am Instrument voraus, sodass auf bereits im Gedächtnis gespeicherte Bewegungsmuster und Klangerinnerungen zurückgegriffen werden kann. Dennoch kann das mentale Üben bereits früh in den Instrumentalunterricht mit eingeflochten werden. Für den Beginn sei es im Kindes- oder Erwachsenenalter ist wichtig, dass man mit Werken von relativ einfachem Schwierigkeitsgrad beginnt und dass die mentalen Übeeinheiten anfangs nur kurz sein und wenige Minuten nicht überschreiten sollten. Häufig gelingt die gleichzeitige Vorstellung der verschiedenen Modalitäten nicht sofort. Dann können die verschiedenen Aspekte im Sinne von Gerhard Mantels “rotierender Aufmerksamkeit” (2) nacheinander fokussiert werden. Selbst mit wenig Erfahrung im mentalen Üben lassen sich auf diese Weise bereits überraschend gute Ergebnisse erzielen.
Üben durch Beobachten und Imitation
Ganz unabhängig von der Vorerfahrung ermöglicht das oben angesprochene System der Spiegelneurone eine weitere Form des mentalen Instrumentalübens: das Üben durch Beobachten und Imitation. Es ermöglicht dem Instrumentallehrer, Lehrinhalte wie z.B. Spielökonomie, Haltungsoptimierung und Klanggestaltung oder andere schwer zu verbalisierende Aspekte durch die Demonstration am Instrument zu vermitteln. Hierbei ist wichtig, dass die Demonstration gerade vor jungen Instrumentalschülern qualitativ hochwertig sein muss, da besonders im jungen Alter zwischen günstigen und ungünstigen Bewegungsabläufen noch nicht unterschieden werden kann, sodass im negativen Fall auch ungünstige Bewegungsabläufe imitiert werden. Konzertbesuche und die damit verbundene Beobachtung der Bewegungsabläufe bei sehr erfahrenen, konzertierenden Instrumentalisten sind in diesem Zusammenhang empfehlenswert und können eine wesentliche Unterstützung beim Instrumentalüben und bei der Optimierung musikalischer und instrumentaler Fertigkeiten darstellen.
So außerordentliche mentale Fähigkeiten, wie Rubinstein sie in der oben geschilderten Episode unter Beweis stellte, sind sicherlich eine Ausnahmeerscheinung. Dennoch vermag die Einbeziehung mentaler Techniken in die tägliche Überoutine eines jeden Musikers nicht nur den Übeprozess und dessen Ergebnis zu optimieren, sondern auch das Erleben der Musik für den Ausführenden und als Folge auch für den Zuhörer zu bereichern und zu intensivieren.
(1) Walter Gieseking/Karl Leimer: Modernes Klavierspiel, Mainz 281998.
(2) Gerhard Mantel: Einfach üben, Mainz 32004, S. 24 f.
Literaturhinweise
Renate Klöppel: Mentales Training für Musiker, Kassel 2003
Caroline Palmer: “The nature of memory for music performance skills”, in: Eckart Altenmüller / Jürg Kesselring / Mario Wiesendanger (Hg.): Music, Motor Control and the Brain, Oxford 2006, S. 39-53