Kaufmann, Michael / Stefan Piendl
Das Wunder von Caracas
Wie José Antonio Abreu und El Sistema die Welt begeistern
Mit einer Probe in einer Tiefgarage fing alles an. Als im Februar 1975 elf Musiker in Venezuela dem Ruf von José Antonio Abreu folgten, ahnte wohl noch niemand, dass damit die Basis für das weltgrößte Kinder- und Jugendorchestersystem gelegt würde. Von einer großen Vision beseelt, hat der Dirigent, Ökonom und Politiker in 36 Jahren nicht nur die Gesellschaft seines Landes verändert, sondern sein revolutionäres Musikbildungssystem auch in alle Welt exportiert. Michael Kaufmann und Stefan Piendl haben jetzt das erste Buch über die schier unglaublich erscheinende Erfolgsgeschichte von El Sistema vorgelegt.
Dank der zielstrebigen Beharrlichkeit Abreus, der als Enkel italienischer Auswanderer früh seine Liebe zu Verdi und Puccini entdeckte, musizieren inzwischen rund 350000 Kinder in 230 staatlich finanzierten Musikschulen, die über das gesamte Land verteilt sind. Mit seiner Initiative wollte der kluge Stratege zunächst Perspektiven für venezolanische Nachwuchsmusiker schaffen, denen die Orchester ausländische Kollegen vorzogen. Doch schon bald ging es Abreu vor allem darum, Kinder aus unterprivilegierten Schichten durch Musik zu sozialisieren.
Mit einer Bibel, einem Mobiltelefon und einem Lunchpaket ausgerüstet, wartete José Antonio Abreu so lange in den Fluren der Behörden, bis er ans Ziel gekommen sei, berichten seine Weggefährten. Um neue Schulen (núcleos) zu eröffnen und Instrumente anzuschaffen, erhält er internationale Förderung von Institutionen wie der UNESCO und der Interamerikanischen Entwicklungsbank. Große Dirigenten wie Claudio Abbado,
Simon Rattle und Daniel Barenboim kommen nach Venezuela, um mit den Musikern zu arbeiten. In Deutschland entstehen Partnerschaften mit der Jeunesses Musicales, dem Bundesjugendorchester, dem Deutschen Musikrat, den Berliner Philharmonikern und dem Bonner Beethovenfest, die den Venezolanern und ihrem jungen Ausnahmedirigenten Gustavo Dudamel auch hier eine Bühne bieten. Deutsche Musiker reisen nach Südamerika, um ihre Erfahrungen weiterzugeben.
Kaufmann und Piendl stellen das Phänomen El Sistema erstmals umfassend in seinem politischen und historischen Kontext dar. Zwei Kapitel widmen sich außerdem den von Abreu inspirierten Projekten in den USA, die die Autoren als besonders spannend bewerten. Auch kritische Reflexionen fehlen nicht. So stellt sich die Frage, ob das Repertoire wie etwa von Rattle dringend angeraten tatsächlich über die bekannten Highlights von Beethoven, Tschaikowsky und Mahler hinaus erweitert wird. Andere Beobachter äußern die Befürchtung, dass der soziale Zweck des Unterfangens durch die von Abreu vorangetriebene Öffnung nach außen und eine wachsende Abhängigkeit vom internationalen Musikgeschäft ins Hintertreffen geraten könnte. Nach Einschätzung der Autoren überwiegt letztlich aber doch der Glaube daran, dass die demokratische Utopie des Orchestersystems in Venezuela Bestand haben wird.
Corina Kolbe