Forner, Johannes

Das Wunder Mendelssohn

Porträt eines großen Musikers

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Faber & Faber, Leipzig 2009
erschienen in: das Orchester 12/2009 , Seite 62

Der Titel klingt, als müsse man sich auf ein Buch im Geist des Geniekults einstellen. Tatsächlich ist es voller Bewunderung und Liebe für Mendelssohn geschrieben, aber niemals unkritisch oder mit dem verschwommenen Blick derer, die ihren Gegenstand in hagiografischer Absicht präsentieren. Im Prolog sagt der Autor, wie das Buch verstanden werden soll: nicht als Biografie, „sondern als Entwurf eines Bildes von einer außergewöhnlichen Persönlichkeit“.
Johannes Forner stammt aus Leipzig und wirkte von 1972 bis 1981 als Chefdramaturg am Gewandhaus. Er ist Professor für Musikwissenschaft an der dortigen Hochschule für Musik und Theater und Fachmann für die Musikgeschichte Leipzigs. Damit verfügt er über beste Voraussetzungen, um Mendelssohns Leben und Schaffen während dessen wichtigen Leipziger Jahren detailgenau und atmosphärisch dicht schildern zu können. Das Buch hat aber dennoch keine Schlagseite in Richtung Leipzig. Die Aufenthalte des frühreifen Kindes beim alten Goethe in Weimar, die Reisen des jungen Mannes durch die Schweiz, Italien, Schottland und England, die Stationen Berlin und Düsseldorf: Alle Orte und Begegnungen sind für Forner Gelegenheiten, das vor Produktivität berstende Multitalent Mendelssohn in seinem Umfeld von Familie, Freunden und Konkurrenten zu charakterisieren.
Das Werkverzeichnis – soweit es fertig ist – umfasst über 900 Kompositionen in 26 Gattungen, entstanden in etwa drei Jahrzehnten Arbeitszeit. Neben der Musik, der er sich komponierend, interpretierend und organisierend gewidmet hat, schrieb Mendelssohn noch tausende von Briefen von literarischer Qualität und zeichnete und aquarellierte kunstgerecht. Landschaften, Pflanzen, Interieurs und Gebäude, alles konnte er darstellen, nur Menschen, „die konnte er nicht“.
Durch Mendelssohns Leben zieht sich die Gretchenfrage „Wie hast du’s mit der Religion“ wie ein roter Faden. Der Enkel des Philosophen Moses Mendelssohn, als Familienmitglied vom Judentum zum Christentum konvertiert, hat sich immer als Deutscher und Kind beider Religionen gefühlt. Seine Oratorien erzählen von Elias, Paulus und Christus. Dabei wusste Mendelssohn, welche Rolle er gesellschaftlich zugeschrieben bekam. In einem Brief an seinen Lehrer Zelter steht immerhin folgender Satz: „Wenn die Leute mich einmal in Deutschland nirgend mehr haben wollen, dann bleibt mir die Fremde immer noch.“ Wie London, wo er auf keine Vorurteile stieß, nur unter seinem jüdischen Namen auftrat und das angehängte Bartholdy wegließ.
Man lernt bei Forner eine Menge über Mendelssohns Musik, ohne irgendwo auf Hürden für das Verständnis zu stoßen. Und dieses schöne Lesebuch (ohne Register) landet in Leipzigs Gegenwart als derjenigen Stadt, die die weltweit umfassendste Pflege des Lebenswerks von Felix Mendelssohn Bartholdy vorweisen kann.
Kirsten Lindenau

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