Wagner, Josef M.
Das württembergische Hoforchester im 19. Jahrhundert
Untersuchungen zur Anstellungspraxis
Dass für eine Studie zu diesem Thema ausgerechnet das württembergische Hoforchester ausgewählt worden ist, geschah nicht zufällig: Im Unterschied zu den meisten anderen deutschen Bühnen hat das Stuttgarter Theaterarchiv den Zweiten Weltkrieg ohne größere Verluste überlebt. Mit dem geradezu unerschöpflichen Quellenmaterial des 19. Jahrhunderts aus Korrespondenzen, Dienstverträgen und weiteren Personal- und Verwaltungsakten kann man sich ebenso gut über die Intendanten oder das künstlerische Personal (also Sänger und Orchestermusiker) informieren wie über die zahllosen Angestellten, die als Theatermaler, Souffleure oder Reinigungskräfte hinter den Kulissen und als Kartenverkäufer oder Platzanweiser im Publikumsbereich zum möglichst reibungslosen Tagesablauf beitragen.
Wer aber meint, dass es kaum etwas Langweiligeres als verstaubte Dienstakten geben könnte, der irrt in höchstem Maß, denn in den historischen Dokumenten menschelt es oft ganz erstaunlich. Und die Verträge offenbaren einen Berufsalltag, der von den bis heute gewerkschaftlich erstrittenen Errungenschaften (etwa die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) noch weit entfernt ist. Wie jeder Arbeiter oder Angestellte war damals auch der Berufsmusiker seines Glückes Schmied und musste von sich aus aktiv werden, wenn er sich besser stellen wollte eine automatisierte Tariferhöhung nach einer bestimmten Anzahl von Dienstjahren war noch unbekannt.
Josef M. Wagner hat Archivalien der Jahre 1816 bis 1891 ausgewertet und berichtet über die erstaunlich häufig wechselnden Verwaltungsstrukturen, wobei nur der König als oberster Dienstherr unangetastet blieb. Bei einer Neueinstellung kannte die fachlich eher inkompetente Bürokratie fast nur ein Ziel: Mit geringstem finanziellen Aufwand das Funktionieren des Orchesters zu garantieren. Doch weil es kein allgemein gültiges Vertragsrecht im modernen Sinn gab, konnten auch Ausnahmen gemacht werden, falls man einen bestimmten Musiker unbedingt haben wollte.
Vor diesem Hintergrund darf man eine äußerst spannende Lektüre erwarten, und tatsächlich hat Wagner eine ungeheure Menge von bisher wenig erforschtem Material zusammengetragen. Besonders das Kapitel über die Ausbildungswege des Orchesternachwuchses ist sehr informativ: Hier dokumentiert er die wichtige Rolle des Prager Konservatoriums und deckt dabei eine überraschende mitteleuropäische Verbindungslinie auf, die noch nicht bekannt war. Auch das extra eingerichtete Zöglingswesen der Stuttgarter Hofkapelle, bei dem die Berufsmusiker den Orchesternachwuchs oft unentgeltlich auszubilden hatten, gehört zu den interessantesten Teilen der Arbeit.
Doch leider fehlt eine schlüssige Strukturierung des gesamten Stoffs, bei der sich ein Mosaikstein zwingend zum andern fügt und am Ende den Blick auf ein schlüssiges Gesamtbild ermöglicht. Gleichwohl enthält der Band wertvolle, anderweitig bisher kaum veröffentlichte Informationen, sodass sich die mitunter beschwerliche Lektüre letztlich doch lohnt.
Georg Günther