Scherz-Schade, Sven

Das Wichtigste ist das Handwerk

Interview mit Kolja Blacher

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 04/2009 , Seite 16
Der in Berlin geborene Geiger Kolja Blacher ging mit 15 Jahren nach New York, um an der Juilliard School of Music zu studieren. Als viel gefragter Solist gastiert er heute bei zahlreichen internationalen Orchestern. Von 1993 bis 1999 war Kolja Blacher Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, von 1999 an unterrichtete er an der Musikhochschule Hamburg, zum Sommersemester 2009 wurde er als Professor für Violine an die Hochschule für Musik "Hanns Eisler" Berlin berufen.

> Die Anforderungen an ein Musikstudium haben sich in den vergangenen Jahren enorm verschärft. Was ist das wichtigste, das die Studierenden heute während ihrer Ausbildungszeit lernen müssen?
Das Handwerk als solches ist das Wichtigste. Eine Eigenschaft, die heute dazu gekommen ist, ist Flexibilität! Man kann nicht mehr davon ausgehen, dass man als Orchestermusiker zukünftig nur Bruckner und Brahms spielen wird. Die Musiker von morgen müssen auch mit ganz moderner Musik klarkommen. Sie müssen ebenso wissen, wie man Barock oder Klassik spielt. Unter Umständen müssen sie ein anderes Instrumentarium beherrschen. Sie müssen im kleinen Ensemble spielen können, genauso wie sie sich ins große Orchester einfügen können müssen.
 

> Solche Fertigkeiten zur Flexibilität zu erlernen, braucht viel Studienzeit. Aber gerade nach der Umstellung von den Diplom- auf die Bachelor- und Masterstudiengänge wurde von vielen Seiten beklagt, dass insgesamt zu wenig Zeit zur Verfügung stünde. Kann das Musikstudium da trotzdem angemessen auf den späteren Arbeitsmarkt vorbereiten?
Ja. Natürlich ist es schade, dass bei den neuen Abschlüssen insgesamt weniger Zeit zur Verfügung steht. Dennoch muss man das als Chance betrachten. Man kann das Studium auf das Wesentliche konzentrieren. Fächer, die vielleicht nicht so wichtig waren, können in den Hintergrund treten. Das ist natürlich von Hochschule zu Hochschule sehr unterschiedlich. Im internationalen Vergleich wurde in Deutschland früher ziemlich getrödelt. Ich mag mich da jetzt konservativ anhören: Aber wenn man weiß, man soll bis zu jenem Zeitpunkt dieses oder jenes Ziel erreicht haben, dann ist das ein sehr guter Ansporn. Ich kenne es auch nicht anders. An der Juilliard School gab’s damals schon die Bachelor- und Master-Fächer. Wir hatten ein strafferes Programm als in Deutschland. Aber ich bin der Meinung, dass wir auch dort genügend Zeit zum Üben fanden.
 

> Sie sind jetzt von Hamburg nach Berlin an die Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ gewechselt. Warum?
Ich bin in Berlin geboren und aufgewachsen und lebe hier. Das ist ein großer Vorteil, weil ich jetzt für den Unterricht immer vor Ort bin. Das war ja in der Vergangenheit an vielen Musikhochschulen ein Problem. Die „Eisler“ ist für Streicher zurzeit das erste Haus für eine Ausbildung in Deutschland. Es unterrichten hier Dozenten, die erstklassige Erfahrungen aus der Praxis mitbringen. So habe wohl auch ich in das Profil der „Eisler“ gepasst, weshalb mich die Kolleginnen und Kollegen berufen haben. Ich habe schon viel konzertiert – und tue es noch –, ich kenne den Blickwinkel eines Konzertmeisters, habe aber auch den Background als Kammermusiker und als Interpret Neuer Musik.
 

> Für viele Studierende entscheidet sich erst im Laufe der Zeit, ob sie eine Solokarriere einschlagen oder ob sie eine Anstellung im Orchester oder einen musikpädagogischen Beruf anstreben. Geben Sie Ihren Schülerinnen und Schülern da Ratschläge?
Selten. Meistens wird diese Entscheidung ja gegen Ende des Studiums bzw. kurz nach dem Studium getroffen durch die berufliche Realität. Es gibt Studenten, die schon während des Studiums viele beeindruckende Solokonzerte geben, wo ich weiß, dass es in diese Richtung geht. Andere sind auf der Kippe, wo man sich auch die Frage stellen muss, ob der- oder diejenige sich von einer Solokarriere später finanzieren können wird. Da lade ich schon zum Gespräch und empfehle, dass man sich auch auf Konzertmeisterstellen bewerben soll. Der Markt ist aber heute insgesamt so eng geworden, dass man gar nichts vorhersagen kann. So ein Mutmacher-Satz wie: „Du bist gut, du wirst es bestimmt schaffen als Solist!“, der sagt sich heute nicht mehr so leicht.
 

> Für wie wichtig halten Sie beim Musikstudium das so genannte Meisterprinzip, dass der künstlerische Einzelunterricht vom ersten bis achten bzw. sechsten Semester bei ein und demselben Lehrer, nämlich dem Meister, stattfindet?
Eigentlich gilt das Meisterprinzip schon nicht mehr so wie früher. Die Studenten suchen sich ihren Studienort immer stärker nach Institutionen oder nach Städten aus. Bei mir war das noch anders. Ich wusste, ich wollte bei Dorothy DeLay studieren und bin nach New York gegangen – hätte aber auch in Hannover oder Hintertupfingen studiert, wenn sie dort unterrichtet hätte. Heute hingegen stehen Städte und Institutionen im Vordergrund. Ich halte auch überhaupt nichts davon, wenn Professoren sich darin sonnen, welche Karrieren ihre ehemaligen Schüler hingelegt haben. Das lässt auch nach. Übers gesamte Studium kann es mitunter zu schwachen Phasen bei den Schülern kommen. Wenn ich merke, dass bei jemandem der Dampf raus ist, dass er vielleicht blockiert ist und dass es gar nicht mehr vorangeht, dann habe ich es immer so gehalten, dem Schüler das offen zu sagen und ihm auch einen Lehrerwechsel nahe zu legen. Das wird vom Schüler natürlich so aufgefasst wie: „Der mag mich nicht mehr.“ Aber auch das ist doch meine Verantwortung als „Meister“, aufrichtig zu kommunizieren, wenn’s nicht mehr weitergeht. Schüler sind nicht unser Eigentum, sie gehören sich selbst.
 

> Früher diente der Einzelunterricht vorrangig der solistischen und technischen Ausbildung. Kann er auch die Fähigkeiten zum Orchesterspiel vermitteln?
Tatsächlich ist für die Absolventen, die ins Orchester wollen, die Vorbereitung aufs Probespiel sehr wichtig. Und da müssen die solistischen Qualitäten trainiert werden. Die Anwärter müssen etwa das Mozart-Violinkonzert so spielen können wie ein Solist in einem großen Saal. Darüber hinaus müssen wir Orchesterstellen trainieren. Das wurde in der Vergangenheit oft vernachlässigt. In Hamburg haben wir obligatorisch das Orchesterstellen-Vorspiel in die Prüfung mit eingebettet und haben das auch im Unterricht forciert. Und in diesem Zusammenhang lässt sich sehr wohl das typische Orchesterspiel lehren. Ein Spiccato würde grauenhaft klingen, wenn alle 16 Geigen meinen, sie müssten solistisch spielen. Ich habe auch schon mit Schülern zusammen die Orchestersituation geübt, wie man zusammen am Pult musiziert: etwa wie ist es, wenn der andere führt, wenn man selbst führt, wenn man nach Schlag spielen muss usw. Sogar das Gespür, das ein Konzertmeister mitbringen muss, kann man unterrichten, selbstverständlich!
 

> Sie arbeiten als Solist und als Kammermusiker mit international renommierten Künstlern zusammen. Tauscht man sich bei diesen Kontakten auch über Ausbildungs- und Studienfragen aus?
Natürlich. Es ist sogar gut zu wissen, dass man mit dem einen oder anderen Problem nicht alleine ist. Als Lehrer muss man auch zugeben, dass der eigene Ratschlag nie mehr wert ist als die Erfahrung, die jeder Schüler für sich selbst macht. Meine Kollegen und ich raten deshalb eigentlich immer: Orientiert euch an der Qualität, die ihr draußen hört. Die Maßstäbe sind damit schon sehr hoch gesetzt.