Kaden, Christian
Das Unerhörte und das Unhörbare
Was Musik ist, was Musik sein kann
Woher kommt es nur, dass es oft so schwierig ist, großartige Bücher angemessen zu rezensieren? Ist es die Fülle der Gedanken, die mit wenigen Worten wiederzugeben man nicht in der Lage ist? Die Logik des Denkens, die verblüffenden Wendungen, denen zu nähern man sich scheut aus Angst, der eigene Text werde angesichts der zu besprechenden Vorlage schlecht abschneiden? Das neueste Buch von Christian Kaden gehört zweifellos zu den großartigen. Die Schwierigkeiten, die es dem Rezensenten bereiten mag, brauchen den Leser jedoch Gott sei dank nicht zu kümmern: Kaden schreibt absolut eingängig, leicht zu lesen, geradezu spannend.
In Siena trifft er sich mit uns auf der Piazza del Campo. Musik der Stille führt er uns dort vor Augen und Ohren und zeigt uns, wie sich die Proportionen des berühmten Palazzo Pubblico als exakte Übertragung der Teilungsverhältnisse der Obertonreihe deuten lassen. Ein Haus zum Hören
Und los geht die Welt- und Zeitreise: Bei anderen Ethnien können wir lernen, dass es verschiedene Musiken gibt. Unser heutiges abendländisches Denken kennt Musik nur im Singular. Ob Klassik, Pop/Rock oder Jazz selbst die world music kennt nach unserem Verständnis keinen Plural. Ganz anders verhält es sich z. B. bei den Suya-Indianern. Diese unterscheiden zwei Musizierweisen, die, so Kaden, eine vollgültige Dualstruktur aufweisen. Differenziert wird nicht nur, wie jeweils gesungen werden darf (individuell/unisono, angestrengt/ moderat, Tempo variabel/relativ fix
), sondern auch wer singen darf (Männer oder Männer und Frauen), ja sogar wo gesungen wird (außerhalb des Dorfes/Inneres der Häuser). Die Suya besitzen zwei Musiken, die sich niemals zu einer einzigen verbinden lassen. Und: Sie wollen dies offenkundig so. Der vorgeblich vokabulare Defekt ist eine Tugend. Was fehlt, macht erst recht deutlich, wo etwas zu finden ist.
Vom Speziellen ist es bei Kaden immer ein kurzer Weg zum Allgemeinen. Das Beispiel der Suya führt ihn zum Kernpunkt, worin sich unsere Musikkultur von der der Suya und anderer unterscheidet: Komplementarität versus Kumulation, wildes Denken versus zivilisatorisches Denken. Warum jedoch, fragt Kaden, hat Komplementarität für ,wilde Kulturen eine so außerordentliche und für das ,zivilisierte Abendland eine so untergeordnete Bedeutung? Wie kommt es, dass dort Unterschiede existenzfundierend sind, während hier, im Bewusstsein westlicher Aufklärung, allenthalben nach Gemeinsamkeiten gesucht wird, nach Konsens im Privaten wie im Politischen? Dies ist nur eine der Fragen, deren Beantwortung sich durch das gesamte Buch zieht. Kaden betont den Sinn für das ANDERE, auch im eigenen Leben.
Doch das ANDERE, war es unserer Musik schon immer wesensfremd? Mitnichten: Im alten Griechenland, am Ursprung unserer abendländischen Musikkultur finden wir die Dualität des Dionysischen und Apollinischen, den Zweikampf von Marsyas (= Aulos) und Apollon (= Leier). Warum Marsyas besiegt wurde, wann und wie unserer Musikkultur das ANDERE abhanden kam zugunsten einer Musik das alles und noch viel mehr stellt Kaden uns im Gang durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart faszinierend vor Augen und Ohren.
Hinzu kommen eine ansprechende Buchgestaltung, weitgehende Fehlerfreiheit und ein Buchlektorat, das seinen Namen verdient: Bärenreiter zeigt, dass es möglich ist, auch in schwieriger wirtschaftlicher Zeit Bücher von besonderem Anspruch auf den Markt zu bringen.
Rüdiger Behschnitt