Nachmanovitch, Stephen

Das Tao der Kreativität

Schöpferische Improvisation in Leben und Kunst

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: O.W. Barth, Frankfurt am Main 2008
erschienen in: das Orchester 10/2008 , Seite 57

Kreativität ist nach wie vor ein Zauberwort, das zu großen Erwartungen für die Veränderung der Gesellschaft überhaupt und der Kunst im Besonderen verführt. In diese Denkspur reiht sich die vorliegende Publikation ein: „Der Zweck dieses Buches ist es, Verständnis, Freude, Verantwortung und Frieden zu verbreiten, die durch den vollen Gebrauch der menschlichen Phantasie entstehen.“
Das Buch stellt ein Extemporieren über das Schöpferische in allen Bereichen des Lebens mit besonderem Augenmerk auf die Musik aus der Perspektive eines Improvisators dar, der seine Kunst mit Elementen des Zen-Buddhismus in Beziehung bringt. Der Beitrag ist irgendwo zwischen philosophischem Essay und gehobener Ratgeberliteratur anzusiedeln. Er ist mit einer Fülle von Bildern und Zitaten aus den verschiedenen Künsten sowie mit Versatzstücken östlicher Philosophie angereichert.
Die Musik ist hier als Beispiel für Kreativität lediglich besonders herausgestellt. In erster Linie werden Alltagserfahrungen und Möglichkeiten des Schöpferischen erörtert. So führt das Kapitel „Quellen“ in die Bewusstseinszustände der kreativen Arbeit ein. Großen Wert legt der Autor auf die Thematisierung von „Blockaden und Öffnungen“. Hier ist er ganz dem Bild von Michelangelos Befreiung seiner Statuen aus dem Stein verbunden, das wie ein Leitmotiv den Text durchstreift. Diese Metapher wendet der Autor in zweifacher Hinsicht an. Sie bezieht sich sowohl auf die Schöpfung, die bereits im Material steckt, als auch auf die Kreativität als Potenzial jedes Menschen.
Wie weit die Beziehungen zum Buddhismus gelungen und hilfreich sind, mögen andere beurteilen. Aus meiner Sicht entfaltet das Buch dort seine größte Kraft, wo die offensichtlich reiche Improvationserfahrung am stärksten spürbar wird. Unter der Überschrift „Schaffen“ werden zentrale Elemente des Musizierens, Fragen der Technik, das Üben, der Umgang mit Fehlern, Regeln des Zusammenspiels und das Entwickeln und Verstehen von Form erfrischend neu gesehen und in einer Weise grundsätzlich befragt, wie sie die Perspektive des Improvisators auch in das Spiel bereits vorhandener Musik hineinzubringen vermag. Lose eingestreut finden sich zwischendurch hilfreiche kleine Übungen zur Veränderung der Sichtweise auf Musik und zur Anregung von Improvisationen.
Die Bricolage aus persönlichen Erfahrungen und bunten Quellen hat durchaus immer wieder etwas Berührendes. Wenig überzeugend ist die ideologische Gesamtausrichtung, die schließlich die Heilserwartungen an das Schöpferische wie so oft überzieht und romantisiert. Kreativität ist eben nicht ein Ganzes, sondern immer auch an die Domäne, den Kontext, die Entwicklung des Einzelnen gebunden. Sie ist ebenso zur Zerstörung benutzt worden wie zum Heil der Menschen und sie stellt in ihren Erscheinungsweisen mehr die Brüchigkeit der Welt als ihre Ganzheit dar. Das mag einen Leser aber nicht davon abhalten, sich von der einen oder anderen Idee in diesem Buch inspirieren zu lassen.
Christine Stöger