Aster, Misha

„Das Reichsorchester“

Die Berliner Philharmoniker und der Nationalsozialismus

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Siedler, München 2007
erschienen in: das Orchester 01/2008 , Seite 57

Als im Jahr 1933 die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, ­befand sich das Berliner Philharmonische Orchester in einer finanziell prekären Situation. Das bisher als GmbH geführte Orchester war überschuldet bis an den Rand des Bankrotts und brauchte dringend Subventionen. Die Suche nach staatlicher Unterstützung traf auf das Interesse Hitlers und Goebbels’, ein Orchester von diesem Format als Propagandainstrument vereinnahmen und einsetzen zu können. Da der Geschmack des Chefdirigenten Wilhelm Furtwängler ohnehin recht konservativ war – ­lediglich am „Fall Hindemith“ kabbelte er sich mit den Nazi-Autoritäten –, bedurfte es nicht einmal gravierender Eingriffe in die Programmpolitik des Orchesters. Dass es bei der Olympiade 1936 und später an Führers Geburtstag Musik zu machen hatte, schien die Mehrzahl der Musiker nicht grundlegend zu stören. Ihre Existenz war gesichert, sie waren privilegiert – bis zum bitteren Ende.
Der kanadische Forscher Misha Aster vermeidet pauschale Schuld- oder Unschuldzuweisungen, sondern rekonstruiert aus gesellschaftlichen und politisch-administrativen Funktionsweisen die „Harmonie“ zwischen Spitzenorchester und Naziregierung. Dieser Aufweis einer merkwürdigen „Ehe“, eine Rekonstruktion aus Korrespondenzen, Abrechnungen, Reiseunterlagen, öffentlichem wie privatem Archivmaterial, gelingt auf erfreulich sachliche und unemotionale Weise, ohne dass aber im Geringsten die offenen, heimlichen und unheimlichen Verstrickungen der Kunst mit der Macht verschwiegen oder beschönigt würden. Die vier jüdischen Mitglieder, darunter Konzertmeister Szymon Goldberg, verließen das Orchester aus begreiflichen Gründen sehr bald, die wenigen „Halbjuden“ (in der Nazi-­­Terminologie) deckte Furtwängler, der als selbst ernannter „Führer“ (!) des Orchesters mit Goebbels auf gleicher Augenhöhe verhandelte – und dabei seine Karriere keineswegs vergaß, ebensowenig die Intrigen gegen den jungen Konkurrenten Herbert von Karajan, der wiederum ein Schützling Görings war.
Trotz der exakten Recherchen schrieb Aster keineswegs ein staubtrockenes Buch, im Gegenteil, es liest sich flüssig und spannungsvoll und lässt auch Raum für Anekdotisches und Skurriles. Makabre Quintessenz: Gerade wegen der Privilegien, die Goebbels für das Orchester als sein Hätschelkind durchboxte, überlebte dieser Klangkörper, sowohl die Krise 1932 bis 1933 als auch das Kriegsende. Dass vergleichbare Institutionen sich ­unter ähnlichen diktatorischen Bedingungen und zu anderen Zeiten auch nicht viel anders verhielten, mag ein schwacher Trost sein; eine Entschuldigung für die naive bis berechnende Anpassung ist es nicht.
Hartmut Lück