“Das Reichsorchester”

Die Berliner Philharmoniker und der Nationalsozialismus. Ein Film von Enrique Sánchez Lansch, Blu-ray Disc

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: Arthaus Musik 108059
erschienen in: das Orchester 02/2013 , Seite 71

Die Berliner Philharmoniker gedachten 2007 anlässlich ihres 125-jäh­rigen Bestehens auch der Zeit während des Nationalsozialismus. Zwischen 1933 und 1945 wurden die Philharmoniker während ihrer Auslandsreisen zu Botschaftern des Nazi-Regimes. Enrique Sánchez Lansch hat sich für seinen Dokumentarfilm „Das Reichsorchester“ auf die Suche gemacht. Während der Recherchen lebten nur noch zwei der damals aktiven Musiker. In Gesprächen mit ihnen und Angehörigen anderer Philharmoniker fand der Autor heraus, dass im Orchester unterschiedliche Haltungen vertreten waren. Es gab angepasste Mitläufer, die in die NSDAP eintraten, neben „Halb­juden“, die ständig befürchten mussten, deportiert zu werden. Höchstens fünf Orchestermitglieder waren überzeugte Nazis. Die meisten Musiker waren unpolitisch und hegten nie Sympathien für das Regime, spielten aber dennoch bis zuletzt auf Reichsparteitagen oder bei Feierstunden zu Hitlers Geburtstag. Die Musiker genossen Privilegien, sie waren „UK“ (unabkömmlich) gestellt, mussten nicht in den Krieg und waren besser versorgt.
Unbestritten ist, dass das Orchester von den neuen Machthabern ab 1933 profitierte. Trotz künstlerischer Erfolge unter Wilhelm Furtwängler hatte sich im Lauf der 1920er Jahre die finanzielle Lage des Orchesters zunehmend verschlechtert. Es war eine vom Staat unabhängige GmbH unter Selbstverwaltung. Bei Hitlers „Machtergreifung“ stand das Orchester unmittelbar vor dem Bankrott. Goebbels sah in ihm ein wertvolles Propa­gan­da­instrument und stellte es unter die Obhut seines Ministeriums. Dadurch wandelten sich die Musiker von Eigentümern zu Angestellten des öffentlichen Dienstes. Die Kehrseite war die nationalsozialistische Gleichschaltungspolitik, die auch die Philharmoniker betraf. 1933 gab es vier jüdische Musiker, die Furtwängler gerne gehalten hätte, doch sie verließen „freiwillig“ Deutschland. Musiker mit jüdischen Frauen und Vorfahren durften weiterspielen, fühlten sich jedoch bedroht. Sogar nach dem Bombenangriff auf die Philharmonie im Januar 1944 gastierten die Musiker noch an verschiedenen Spielstätten in Berlin, um die Bevölkerung bei Laune zu halten. Für die Musiker war es eine ständige Gratwanderung zwischen Unabhängigkeit und persönlicher Verantwortung.
Nach dem Krieg wurden einige Musiker entnazifiziert und kamen später wieder ins Orchester zurück. Auch Wilhelm Furtwängler musste eine Zeit lang eine Zwangspause einlegen. An seiner Stelle dirigierte Leo Borchard am 26. Mai 1945 im Titaniapalast in Steglitz das erste Nachkriegskonzert mit der Ouvertüre zu Ein Sommernachtstraum des von den Nazis verschmähten Felix Mendelssohn Bartholdy. Richard Wagners
Vorspiel zu Die Meistersinger von Nürnberg erklingt im Bonusfilm in einer Aufnahme von 1942 während eines Konzerts für Arbeiter im Berliner AEG-Werk unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler.
Johannes Kösegi

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