Finkenzeller, Roswin

Das Phänomen Karajan

Ein Divertimento

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 2008
erschienen in: das Orchester 07-08/2008 , Seite 59

Runde Geburtstage pflegen eine wahre Flut von Veröffentlichungen zu entfesseln: So war es vor zwei Jahren beim 250. Geburtstag von Mozart, so ist es nun beim 100. Wiegenfest von Karajan. Die neuen Bücher sind höchst unterschiedlich in Umfang und Zielsetzung. Es gibt eine Menge Biografien, einen Band mit Kollegenurteilen, ja auch die Eindrücke eines Musikfreunds, wie im vorliegenden Fall. Begreiflicherweise wird von den Autoren eine Menge Weihrauch gestreut, vom „Maestro mundi“ bis zum mehrfachen Zitieren eines Wiener Bonmots: „Mozart ist in Salzburg zur Welt gekommen, der Geburtsstadt von Karajan.“ Kritisch geäußert hat sich meines Wissens nach nur Michael Gielen in einem Beitrag zu einem Sammelwerk.
Auch Finkenzeller spart nicht mit überschwänglichem Lob. Er ist kein Musikschriftsteller, sondern politischer Korrespondent der FAZ, konnte jedoch in unzähligen Aufführungen (die er sich alle selbst finanziert hat) Karajan als singuläre Musikerpersönlichkeit erleben. Seine Analysen und Wertungen sind nicht nur hieb- und stichfest, sondern auch sprachlich überaus gelungen, wie z.B. folgender Vergleich: „Den Kontrabassisten geht es wie dem Keller eines Hochhauses, der als tragendes Fundament jederzeit zu erahnen, doch selten wahrzunehmen ist.“
Es macht Freude zu lesen, mit welcher Farbigkeit Karajans Leben nacherzählt wird, wobei der Autor sich hauptsächlich auf eine der zuletzt erschienenen Biografien von Richard Osborne (2008) stützt. Dass dabei kaum Neues berichtet wird, liegt bei dem geringen Umfang des Buches auf der Hand. Höchstens dürfte wenig bekannt sein, dass der Dirigent eine Affäre mit der Filmschauspielerin Margot Hielscher gehabt hat. Als Glanzlichter bleiben manche originellen Äußerungen über den Meister in Erinnerung, wie Mirella Frenis: „Für und unter Karajan würde sie sogar den Sarastro singen!“
Bei den eingeschobenen Besprechungen der Tonträgeraufnahmen wurde dankenswerterweise auf eine kaum bekannte Schallplatteneinspielung der Berliner Philharmoniker hingewiesen: eine wohlgelungene Aufnahme preußischer und österreichischer Militärmärsche.
Erstaunlich, mit welcher Sachkunde und Einfühlung Finkenzeller auf Karajans Besonderheiten der Interpretation eingeht, wie auf das Zustandekommen seines unerreichten Legatos. Richtig ist ohne Zweifel die abschließende Feststellung, die ungeheure Masse von Karajans Tonträgern habe ihm zu seiner Weltgeltung und seinem Reichtum verholfen; oder mit den Worten des Autors: „Da aber Myriaden halbmusikalischer Menschen ihn bestaunten, wurde er ein Krösus.“ Insgesamt kann man der Neuerscheinung nachrühmen, dass sie mit hohem Wissen, Begeisterung und geschmeidigem Stil verfasst ist.
Günther von Noé