Schostakowitsch, Dmitri

Das neue Babylon

Stummfilm von Grigori Kosinzew und Leonid Trauberg (1929)

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: Absolut Medien/Arte/ZDF 862
erschienen in: das Orchester 06/2008 , Seite 68

Gerade erst wurde das SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken zur Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken/Kaiserslautern fusioniert, da kommt diese wertvolle DVD heraus. Nicht zuletzt zeigt sie einmal mehr die große Bedeutung des Kaiserslauterner Klangkörpers auf dem Gebiet der Filmmusik. Unter der Leitung des Filmmusikexperten Frank Strobel gelingt den Musikern ein packendes Hörerlebnis. Weil die geniale Musik von Dmitri Schostakowitsch zum bedeutenden sowjetischen Stummfilm Das neue Babylon von Grigori Kosinzew und Leonid Trauberg kontrast- und nuancenreich gestaltet wird, lässt sich der damalige Skandal bei der Uraufführung am 18. März 1929 in nahezu jedem Takt nachvollziehen. Damals ärgerten sich die aufstrebenden Stalinisten sehr, obwohl es eigentlich um die Pariser Kommune von 1871 geht – eine revolutionäre Bewegung, die bereits während der Französischen Revolution den Sturz der Monarchie herbeigeführt hatte (der Aufstand von 1871 wurde blutig niedergeschlagen).
Vor diesem historischen Hintergrund zeigt der Film die Liebesgeschichte zwischen Louise, Verkäuferin im Kaufhaus Das neue Babylon und Kommunardin, und dem Soldaten Jean: Er wird sie schließlich zur Exekution geleiten, im Regen verwischt die Parole „Vive la Commune!“ Prompt wetterte nach der Uraufführung des Streifens 1929 die Kommunistische Jugend-Internationale: „Konterrevolution!“ – oder anders: Die „historische Perspektive“ sei nicht aufgezeigt worden. Demnach hätte nach den Hinrichtungen die Brücke zur erfolgreichen bolschewistischen Revolution geschlagen werden müssen.
Die Musik wiederum vermengt nicht nur Tragik und Komik, sondern – noch viel schlimmer – zudem die Marseillaise mit dem berühmten Höllengalopp aus Offenbachs Orpheus in der Unterwelt. Wenn in dem exzellenten DVD-Beiheft Schostakowitsch zitiert wird, der mit der Marseillaise die „konterrevolutionären Bürger von Versailles“ charakterisiert wissen möchte, so ist das nur die halbe Wahrheit: Natürlich wusste auch Schostakowitsch, dass die Marseillaise nicht nur die Nationalhymne des bürgerlichen Frankreichs ist, sondern ursprünglich ein Revolutionsgesang war. Letztlich verballhornt Schostakowitsch doppeldeutig auch die Revolutionsidee.
Sensibel hat das SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern diesen hintergründigen Humor aus der Partitur – sie folgt der neuen Schostakowitsch-Gesamtausgabe – gekitzelt. Mit frech-bösen Salonmusiken wird ein absurd-makabres Offenbach’sches Untergangsszenario gezeichnet. Angesichts dieser staunenswerten Leistung des Orchesters stellt sich die Frage, ob auch mit der fusionierten Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken/ Kaiserslautern solch wichtige Filmmusikprojekte möglich sind. Denn auch in diesem Genre werden einschlägige Erfahrungen benötigt.
Marco Frei

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