Gaines, James R.

Das musikalische Opfer

Johann Sebastian Bach trifft Friedrich den Großen am Abend der Aufklärung

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Eichborn, Frankfurt am Main 2008
erschienen in: das Orchester 02/2009 , Seite 60

Begegnungen von bedeutenden Herrschern mit großen Künstlern hinterlassen oft ihre Spuren. Man denke etwa an jene Audienz, die Napo­leon im Jahr 1808 Goethe gab und von der wir zumindest auf des Dichters Seite wissen, dass der empfangene Eindruck prägend blieb. Und wie steht es mit dem Besuch, den Johann Sebastian Bach im Jahr 1747 bei Friedrich dem Großen in Sanssouci machte, wo er dessen Klaviere erprobte und auf sein Geheiß Fugen improvisierte? Als Ergebnis zeitigte er immerhin Bachs kunstvolle Bearbeitung eines vom König vorgegebenen Themas im Musikalischen Opfer, das trotz gewisser Konzessionen an den Musikgeschmack des Königs bei diesem jedoch auf keinerlei Echo stieß.
Die einmalige, flüchtige Begegnung zweier so verschieden gearteter Größen inspirierte den auch musikalisch erfahrenen US-amerikanischen Journalisten und Sachbuchautor James R. Gaines, eine Doppelbiografie Bachs und Friedrichs des Großen zu verfassen. Im abschnittsweisen Wechsel werden zunächst die Lebenswege der beiden Protagonisten geschildert und ihre jeweiligen Charaktere und Weltanschauungen beleuchtet. Zu diesem Zweck spannt Gaines einen umfassenden historischen und thematischen Bogen mit extremen Ausschweifungen: Die ganze Geschichte Brandenburgs skizziert er im Falle Friedrichs II. und arbeitet vor allem die Physignomie seines despotischen Vaters Friedrich Wilhelm scharf heraus. Um zum anderen Bach als geistige und künstlerische Gestalt fassen zu können, unternimmt der Autor ausführliche Exkurse zu Luthers Reformation, zur Zahlensymbolik, Affektenlehre und zur altgriechischen Musiktheorie.
Das Treffen der beiden als Ausgangspunkt des Buchprojekts gerät dabei – mit Recht – in den Hintergrund, auch wenn Gaines versucht, es in einen zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen. Am „Abend der Aufklärung“ siedelt er die Begegnung an und überhöht sie zu einer Auseinandersetzung zwischen orthodoxer Glaubensgewissheit und modernem Skeptizismus. Dabei widersteht der Autor nicht immer ganz der Neigung zu spekulativer Überzeichnung des Gegensatzes und bewegt sich auf sehr schmalem Grat zwischen erwünschter Verlebendigung der Figuren und waghalsigem Psychologisieren oder allzu romanhaftem Fantasieren.
Bach „vor der aufgeschlagenen Calov-Bibel…, ein Glas Branntwein neben sich, und mit bebenden Wangen und schlotternder Perücke, den Federkiel zwischen den dicken Fingern…“: Was soll’s? Die „vielleicht“, „könnte“ und „hätte“ häufen sich: „Die Goldberg-Variationen… überforderten möglicherweise …sogar Bachs eigene Virtuosität“: und wenn schon? Noch weniger ergiebig erweist sich das angehängte Kapitel „Nachleben“ mit seinem kursorischen Blick auf die spätere Rezeption Bachs und Friedrichs II.
Und doch wird man aus der Lektüre dieses Buchs, wenn man einzelne Abstriche macht, Gewinn ziehen: Gaines gelingt es auf weiten Strecken durchaus, in einer eigenständigen Sicht manch neue, erhellende Schlaglichter auf seine Hauptfiguren zu werfen.
Gerhard Dietel