Hindemith, Paul
Das lange Weihnachtsmahl
Als Sujet für seine letzte Oper wählte Paul Hindemith den Text eines der bedeutendsten amerikanischen Dramatiker des 20. Jahrhunderts: Thornton Wilders Einakter The Long Christmas Dinner. Hindemith war sofort von dem Stoff gefesselt, realisierte jedoch, dass er sich nicht unmittelbar für ein Opernlibretto verwenden ließ. Wilder seinerseits reagierte auf Hindemiths Vorschlag, den Einakter umzuarbeiten, nicht nur wohlwollend, sondern sogar begeistert, und so kam es zu einer engen Zusammenarbeit der beiden Künstler. Nach Vollendung des Librettos fertigte Hindemith noch eine deutsche Übersetzung an.
Bei seiner Uraufführung in Mannheim am 17. Dezember 1961 der Komponist selbst stand am Pult stieß Das lange Weihnachtsmahl auf keine allzu begeisterten Reaktionen bei Publikum und Presse. Hindemiths Musik wurde zu einer Zeit des grassierenden Materialfetischismus ohnehin ungnädig beurteilt, doch es war auch das Sujet, dem allgemeine Ratlosigkeit entgegenschlug: Thema der Oper und von Wilders Schauspiel ist der Verlauf der Zeit und des menschlichen Lebens in immer wiederkehrenden Ritualen, dargestellt in Form eines über neunzig Jahre währenden Weihnachtsmahls im Haus der amerikanischen Familie Bayard. Generationen kommen und gehen, Kinder werden geboren, ziehen hinaus ins Leben und sterben irgendwann. Doch die Natur der Dinge ändert sich letztlich nicht nach dem Ende der Oper, wenn nur noch eine einzige Überlebende in dem Haus verblieben ist, wird das Weihnachtsmahl an einem anderen Ort fortgesetzt werden, mit anderen Teilnehmern, in derselben Form.
Diese Art des nicht zielgerichteten Zeitverlaufs hatte Hindemith bereits in der Harmonie der Welt thematisiert, im Langen Weihnachtsmahl wird sie alleinbeherrschend; die Melancholie des Stoffs findet ihre Steigerung im ohnehin resignativen Charakter von Hindemiths Spätstil, der in der Oper noch gesteigert erscheint. Eine glanzvolle Karriere auf der Bühne ist dem Langen Wehnachtsmahl bislang nicht beschieden gewesen, was sich sowohl durch den betont elegischen und undramatischen Charakter der Musik begründet als auch durch die ungünstige Länge des Werks es dauert lediglich eine gute Dreiviertelstunde, sodass es höchstens in Gesellschaft einer anderen Kurzoper aufgeführt werden könnte.
Umso erfreulicher ist es, dass nun die Ersteinspielung des Langen Weihnachtsmahls in deutscher Sprache vorliegt. Hat man sich erst einmal in die so unspektakuläre Tonsprache eingehört, wird man viele Schönheiten entdecken; vor allem die Ensembles gehören zum Schönsten, was Hindemith in seinen letzten Lebensjahren zu Papier brachte. Wie schon bei der Gesamtaufnahme der Harmonie der Welt (Wergo 6652 2) zeichnet Marek Janowski als künstlerischer Leiter verantwortlich, und sängerisch ist diesmal alles zum Besten geraten; Ruth Ziesak (in der Doppelrolle der beiden Lucias) und Arutjun Kotchinian seien stellvertetend hervorgehoben. Hier wurde eine schmerzliche diskografische Lücke mehr als zufrieden stellend geschlossen.
Thomas Schulz