Ortheil, Hanns-Josef

Das Glück der Musik

Vom Vergnügen, Mozart zu hören

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Luchterhand, München 2006
erschienen in: das Orchester 04/2007 , Seite 81

Man stelle sich folgende Szene vor: Im Frühstücksraum eines Hotels tummeln sich junge Serviererinnen und eine stattliche Anzahl durchaus handfester Handwerker um das Buffet, während an einem einsamen Tisch ein einsamer Herr, versehen mit Discman und großen Kopfhörern, sitzt. Plötzlich dreht der einsame Herr, genervt über Handwerker und „Handwerkerkram“ die Kopfhörermusik auf volle Lautstärke und es ertönt in dem Frühstücksraum keine Radiosendung mehr, sondern klassische Musik: Mozart, Lucio Silla. Die Frühstücksgesellschaft verstummt und der einsame Herr zieht samt Kopfhörer, Discman und Mozart wie ein siegreicher Gladiator vom Schlachtfeld.
Eine Satire? Nein. Ein soziologisches Experiment zur Analyse von sozialer Rollendiskrepanz? Nein. Psychologisches Design zur Rekonstruktion misslungener sozialer Interaktion? Auch nein. Was dann? Reality. Eine ernst gemeinte Szene – enthalten in dem neuen Buch von Hanns-Josef Ortheil. Die Szene ist Teil eines Programms, dessen Ziel darin besteht, ein Jahr lang (Fixpunkt ist der 27. Januar, also Mozarts Geburtstag) mit Mozarts Musik im Reisegepäck eben diese Musik an verschiedensten Orten zu hören und die subjektiven Höreindrücke und -ergebnisse in Form von Tagebuchaufzeichnungen und knappen Essays zu protokollieren.
In einem Kaleidoskop fliegender Ortswechsel, differenter Geschwindigkeiten und technisch herstellbarer Klangerzeugung gewinnt Mozarts Musik für Ortheil trotz oder gerade wegen seiner stupenden Mozart-Kenntnis immer neue Schattierungen: Aus den Partituren des späten feudalistischen Zeitalters wird, je nach Ort und Raum, eine Landschafts-Film-Hintergrunds- oder Schauspielmusik. Eine Art Performance-Projekt – so interpretiert Ortheil es selbst. Dabei gestaltet er Hör-Impressionen zu literarischen Bildern um: Die langsamen Sätze der Klavierkonzerte werden zum rhythmischen Pendant für venezianische Gondeln, die Wiener Streichquartette zur Frühsommer-Musik in Gartenanlagen.
Zu diesen Höreindrücken gesellen sich essayhafte Reflexionen: z.B. über Mozarts Briefe mit ihrer „musikalisierten Sprache“; über seine Opern mit der Paar-Idee im Zentrum; über die Klaviersonaten als interne Selbst-Erforschungen; über Szenen aus Mozarts Leben (einschließlich Vater-Sohn-Beziehung natürlich); über Automaten-Figuren und Streichquintette als „Geheimgesellschaften“. Nicht berücksichtigt hingegen werden – ganz bewusst – Musikanalyse und Musiktheorie. Warum? Weil es um die Subjektivität individuellen Hörempfindens gehe; weil der verführerisch-einladende Gestus von Mozarts Musik dem Zergliedern sich entziehe; weil die Offenheit dieser Musik auf „befreiende Weise glücklich“ mache.
Selbstverständlich hat eine solche Sichtweise ein Recht darauf, Recht zu haben, sogar verbunden mit der Folge, dass damit der Text über eine Art Immunisierungsstrategie verfügt: Was soll man schließlich zu bzw. gegebenenfalls gegen die subjektiven Hörempfindungen eines Einzelnen sagen? Vielleicht so viel, dass die kenntnisreich inszenierte Hörreise, so sehr sie zu Anteilnahme anregt, zugleich merkwürdig steril bleibt. Wenn von Mozarts Musik gesagt wird, dass sie ins Draußen drängt, zu Teilhabe und Gespräch einlädt, dann fällt umso mehr die vereinsamte Haltung des Erzählers auf, die übrigens nichts mit der eines Adalbert Stifter zu tun hat. Außer einem – etwas stilisiert wirkenden – Gespräch zwischen Vater und Sohn gibt es keine Interaktion, kaum eine Momentaufnahme alltäglichen Lebens. Die konkrete Verankerung der bereisten Orte tendiert gegen Null. Auf diese Weise wird die Musik vom gesellschaftlichen Bezug abgekoppelt. Statt Adorno nun also Ortheil. Das ist gewiss auch ein Signum unserer Zeit; neue Unübersichtlichkeiten erzeugen ihre Inseln der Innerlichkeit.
Und dennoch initiiert der Text, gerade weil er es nicht will, zum Nachfragen über das, was eine verbrauchte Formel einst als Funktion von Musik bezeichnete. Woran, so möchte man fragen, bemisst sich die Übereinstimmung zwischen Ort und Musik? Sind hierfür innermusikalische Kriterien verantwortlich oder regieren die externen Bedingungen das Hörerlebnis so, dass die Musik sich nach ihnen richtet? Und wenn es sich so verhielte: Müsste man dann nicht Mozarts Musik auch die Funktionen von Werbe-Gebrauchs-Unterhaltungs-Wohlfühlmusik oder – zeitlich rückwärts gewandt – die einer Spielleutemusik zuschreiben? Ginge ein solches Hör-Reise-Experiment auch mit der Musik eines Bruckner oder mit der eines Chet Baker? Oder gibt es so etwas wie eine reine Musik, die unabhängig von ihren Aufführungsbedingungen als geistige Idee unveränderbar bleibt?
Ortheils Tagebuch musikalischer Innerlichkeit enthält mehr musiksoziologischen Sprengstoff als vermutet. Übrigens nicht nur musik-, sondern auch sozialpsychologische Kuriositäten: Musikhören ist – wie Lesen, wenn es denn nicht en passant geschieht – letztlich ein unkommunikativer Akt. Deshalb eignet sich nicht jede soziale Situation und nicht jeder Platz dazu. Auch dieser Aspekt harrt seiner genaueren Betrachtung. Hotelfrühstücksbuffets sind genauso wenig geeignete Orte für siegreich bestandene Mozart-Hörerlebnisse wie etwa Fußballplätze, weil der hier waltende Zwang zur Sozialität einen ästhetisch motivierten Solipsismus als das erscheinen lässt, was er in solchen Kontexten letztlich ist: deplatziert.
Das Billett für Ortheils Mozart-Reise ist dennoch bedenkenlos einzulösen, weil der mit Mozart so unendlich vertraute Cicerone den Leser in den Sog der Musik hineinzieht. Und bei Mozart darf man sich ausnahmsweise auch einmal fallen lassen.
Winfried Rösler