Chailly, Riccardo / Enrico Girardi

Das Geheimnis liegt in der Stille

Gespräche über Musik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Henschel/Bärenreiter, Leipzig 2015
erschienen in: das Orchester 12/2015 , Seite 70

Er zieht sich nicht lange ins Künstlerzimmer zurück. 60 Sekunden Konzentration müssen reichen, dann geht es hinaus auf die Konzertbühne, um seine „unerschöpfliche Leidenschaft für die Musik“ mit seinem Publikum zu teilen. So zupackend wie der Dirigent Riccardo Chailly an seine Auftritte herangeht, so packend kann er von seinem Metier, der Musik, erzählen. Er tut es in einem Buch, das keine (Auto-)Biografie ist, sondern ein langes Interview zwischen Buchdeckeln. Geführt hat es der Musikwissenschaftler Enrico Girardi. Im März 2015 in Italien erschienen, liegt es jetzt, von Michael Horst übersetzt, auf Deutsch vor. Chailly erzählt darin, wie ihn als Fünfjähriger das nächtliche Komponieren des Vaters im Nebenzimmer und die Proben zu Hause der Musik nahebrachte; wie der Kompositionsunterricht „die Hölle“, aber später doch hilfreich war. Und wie ihm als jungem Dirigenten mehr als ein Musiker riet, er solle weniger reden, sondern lieber dirigieren und weniger unterbrechen.
Seine Antworten haben nichts Anekdotisches, sondern immer einen musikalischen Mehrwert. Sein zentrales Credo ist der Respekt vor der Partitur, dem Willen des Komponisten, den es zu ergründen und zum Klingen zu bringen gilt. Und so macht ihm die Genialität Mozarts „immer noch Angst“; und bei aller „glühenden Leidenschaft für Bach“ mache seine Musik den Interpreten zu einem Zwerg.
Diese „Ehre und Bürde“ habe er besonders in Leipzig gespürt, wo er seit 2005 Gewandhauskapellmeister ist und gerade seinen vorzeitigen Abschied zum Ende der laufenden Saison bekanntgegeben hat. Er will sich auf seine neue Aufgabe an der Mailänder Scala konzentrieren, für die er sich wünscht, dass sie sich wieder mehr auf dem Gebiet der italienischen Oper profiliert. Und er möchte seinen Landsleuten die Musik Anton Bruckners näherbringen.
Sich selbst bescheinigt Chailly eine „gewisse Extrovertiertheit“, sich vor ein Publikum zu stellen und seiner Aufmerksamkeit auszusetzen, „war für mich immer schon etwas völlig Natürliches“. In der Arbeit mit dem Orchester suche er nicht die Macht des Dirigenten, sondern eine Verschmelzung des gesamten Klangs. Und er spricht und engagiert sich auch für die zeitgenössische Musik, doch sein Respekt vor der Komposition lässt ihn skeptisch sein gegenüber dem Regietheater: Mit Einfällen um ihrer selbst willen „will ich nichts zu tun haben“. Und nicht zuletzt spricht er auch über das scheinbare, titelgebende Paradox von Musik und Stille: Die Stille habe eine wichtige psychologische wie emotionale Wirkung, erzeuge Spannung, bewirke Konzentration und schaffe Erwartungen. Und für ihn selbst ist die Stille, gerade in Zeiten intensiven Partiturstudiums, „mein Heilmittel, ein Ziel an sich, ein Mittel zur Entgiftung“. Und so spiegelt sich in diesem Buch wider, was Riccardo Chailly auch am Pult ausstrahlt: die pure Freude an der Musik.
Ute Grundmann