Ravel, Maurice
Daphnis et Chloé Suite No. 2/Valses nobles et sentimentales/La Valse/Ma Mère LOye
Dem Vernehmen nach wusste er schon mit zehn Jahren, dass er Dirigent werden wollte, und er hat seinen Berufswunsch mit unfehlbarer Zielstrebigkeit verfolgt: Yannick Nézet-Séguin, 1975 in Montreal geboren. In der letzten Zeit ist der Kanadier in aller Munde: 2008 gab er mit Gounods Roméo et Juliette sein viel beachtetes Debüt bei den Salzburger Festspielen, und im selben Jahr wurde er als Nachfolger von Valery Gergiev Chefdirigent der Rotterdamer Philharmoniker.
Dass mit ihm auch in Zukunft zu rechnen sein wird und dass sich darüber hinaus das holländische Orchester zu den bemerkenswertesten europäischen Klangkörpern entwickelt hat, zeigt sich anhand der vorliegenden CD der ersten einer ganzen Reihe, die bei der EMI mit Nézet-Séguin geplant sind. Die Auswahl Ravelscher Orchesterwerke, die er mit seinem Orchester hier vorlegt, mag auf den ersten Blick wenig Überraschungen zeitigen, macht aber dennoch Sinn, denn zum einen zählt der französische Meister zu den Komponisten, die Nézet-Séguin schon als Kind faszinierten, zum anderen bietet die Musik es handelt sich durchweg um der Sphäre des Balletts entstammende Partituren dem Dirigenten reichlich Gelegenheit, sein untrügliches Gespür für fein ziselierte Rhythmen unter Beweis zu stellen. Man höre etwa den letzten Satz der hier in der reinen Orchesterfassung ohne Chor eingespielten zweiten Suite aus Daphnis et Chloé, wo sich ein unablässiger Sog entwickelt, ohne dass die mannigfachen orchestralen Details dem großen Bogen untergeordnet würden.
Nézet-Séguin befolgt in seinem Dirigat das Gebot der clarté, wie es für französische Musik im Allgemeinen und besonders für die Musik Ravels so wichtig ist. So erstrahlen die regenbogenartigen Farben im ersten Satz der erwähnten Suite in geradezu dreidimensionaler Tiefenschärfe. Doch auch die hinter einer perfekten Oberfläche verborgene Warmherzigkeit und Melancholie der Ravelschen Tonsprache kommen bei Nézet-Séguin zu ihrem Recht, etwa in Ma Mère lOye (der Dirigent bevorzugt auch hier die Suitenfassung) oder den Valses nobles et sentimentales mit ihrem unwirklich verdämmernden Epilog.
Das Orchester vollbringt durchweg Höchstleistungen, vor allem die Holzbläser. Woran es lediglich mangelt, ist die Klangwerdung der dunklen, dämonischen Seiten der Musik, wie sie vor allem La Valse prägen, jenen katastrophischen Abgesang auf die (nicht nur Wiener) Walzerseligkeit. So klug Nézet-Séguin auch disponiert, vermisst man hier doch jenen fatalen Sog, der direkt in den Untergang führt. Zu leichfüßig und harmlos ist die finale Steigerung angelegt, was durch ein eigentlich nebensächlich anmutendes Detail noch verstärkt wird: Die dröhnenden, Tod und Zerstörung symbolisierenden Tamtamschläge sind kaum zu vernehmen. Auch durch die bewegten Teile der Valses nobles, in denen ebenfalls tiefere Dimensionen hörbar werden sollten, steuert Nézet-Séguin manchmal ein klein wenig zu kursorisch. Doch insgesamt vermag diese erste akustische Frucht einer viel versprechenden Zusammenarbeit durchaus zu fesseln.
Thomas Schulz